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Bevormundete Staatsbürgerinnen

Bevormundete Staatsbürgerinnen

-Die radikale Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich-

Anne-Laure Briatte

 

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Übersicht


Verlag : Campus Verlag
Buchreihe : Geschichte und Geschlechter (Bd. 72)
Sprache : Deutsch
Erschienen : 17. 01. 2020
Seiten : 480
Einband : Kartoniert
Höhe : 213 mm
Breite : 140 mm
ISBN : 9783593508276

Du und »Bevormundete Staatsbürgerinnen«




Autorinformation


Anne-Laure Briatte, Dr. phil., lehrt und forscht an der Université Sorbonne.

Produktinformation


Am 19. Januar 1919 konnten Frauen erstmals auf nationaler Ebene in Deutschland das Wahlrecht ausüben. Nach heftig geführten Auseinandersetzungen war damit ein wichtiges Ziel des »radikalen« Flügels der Frauenbewegung des Deutschen Kaiserreichs erreicht. Anne-Laure Briatte zeichnet die bislang vernachlässigte Geschichte dieses Zweiges der deutschen Frauenbewegung nach, der sich um die Hauptakteurinnen Minna Cauer, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann gruppierte. Ihre Analyse der Kämpfe der »linken« Frauenrechtlerinnen, ihrer Erfolge und ihres Scheiterns schließt eine große Lücke in der Erforschung der deutschen Frauenbewegung.

Inhaltsverzeichnis


Inhalt
Einleitung 11
Ebenen der Reflexion und theoretische Grundlagen 15
Quellenkorpus und methodologische Ansätze 32
Aufbau 38
Kapitel I
»Wir kämpfen um unser Menschenrecht«: Die Entstehung
der »radikal«-bürgerlichen Frauenbewegung (1888–1899)
1. Vom Ursprung des Feminismus zur organisierten
Frauenbewegung in Deutschland 43
1.1 Die Anfänge des Feminismus bis zum
Ende der 1880er Jahre 43
Die Ursprünge des deutschen Feminismus 44
Die Frauen während der Revolution von 1848 46
Die Entstehung der deutschen Frauenbewegung 49
1.2 Der Verein »Frauenwohl«: ein »Kampfverein« 52
Minna Cauer 53
Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann 58
Die ersten Schritte des Berliner Vereins »Frauenwohl« 65
1.3 Die feministische Entwicklung des Vereins »Frauenwohl« 67
Innere Konflikte 68
Kurs auf die »Propagandaarbeit« nehmen 71
Ein »Kampfinstrument«: die Zeitschrift
Die Frauenbewegung 75
Fazit 83
2. Ausdifferenzierung der Tätigkeitsfelder und
Spezialisierung der »Radikalen« 85
2.1 Der Kampf um Frauenbildung und um den
Zugang zu qualifizierten Berufen 86
Kritik an der Mädchenbildung 87
Die Vereine der »Frauenbildungsbewegung«
und ihre Reformvorschläge 91
Die »Radikalen«: Spezialistinnen oder
Impulsgeberinnen? 101
2.2 Die Sittlichkeitsfrage 103
Die Lage der Prostituierten im Deutschen Kaiserreich 104
Kritik an der staatlichen Reglementierung:
der Verein »Jugendschutz« 106
Die deutsche abolitionistische Bewegung 112
2.3 Der Kampf um die rechtliche Gleichstellung 116
Ein Zivilrecht, das die Frauen »genau wie Unmündige,
Geisteskranke und Verbrecher« behandelt 118
Die Rechtsschutzstellen 125
Die Expertinnen: Doktorinnen und Autodidaktinnen 128
Fazit 134
3. Die Positionierung der »Radikalen« zu den
anderen Frauenbewegungen 137
3.1 Die »Radikalen« als Opposition im
Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) 137
Die Entstehung des BDF 138
Der Konflikt um die Satzung des BDF 143
»Radikale« und »Gemäßigte« 150
3.2 Annäherungsversuche an die Arbeiterinnenvereine 157
Reaktionen auf den Ausschluss der Arbeiterinnenvereine 158
Clara Zetkins Politik der »reinlichen Scheidung« 160
War eine punktuelle Zusammenarbeit möglich? 164
3.3 Die Krisen der Jahre 1898 und 1899:
Die »Radikalen« arbeiten ihre Positionen heraus 169
Schlussfolgerungen aus Kapitel I 172
Kapitel II
»Wir sind Bürgerinnen des Staates«: Die »Radikalen«
als Faktor des politischen Lebens (1899–1908)
1. Der Verband fortschrittlicher Frauenvereine:
ein Dachverband nach Maß 179
1.1 Eine moderne Kommunikationspolitik für
die abolitionistische Bewegung 179
Die Ziele der deutschen abolitionistischen Bewegung 182
»Skandalisierung« und »Propaganda der Tat« 186
Polemik um die »Neue Ethik« 194
1.2 Die Frauenstimmrechtsbewegung als neuer
Motor des »radikalen« Flügels 200
Das Gefühl einer doppelten Verspätung 203
Die Bewegung kommt ins Rollen 206
Den Willen zu politischer Teilhabe inszenieren 210
1.3 Die Politik der ausgestreckten Hand gegenüber
den Arbeiterinnen 213
Initiativen zu einer Annäherung 214
Ein Schritt nach vorne, zwei zurück 220
Schwierigkeiten und Hindernisse 225
Gründe für das Scheitern 234
Fazit 237
2. Die »Radikalen« auf der Suche nach Partnerinnen
und Partnern 239
2.1 Gewinn an Einfluss der »Radikalen« im BDF 239
Marie Stritt, Vorsitzende des BDF (1899–1910) 240
Vom BDF übernommene »radikale« Positionen 244
Eine Vermittlerin »radikaler« Ideen im BDF 250
2.2 Kurs auf die internationale Frauenbewegung:
eine strategische Orientierung 255
Feminismus und Internationalismus 256
Ein kontrollierter Ideentransfer 260
Strategische Herausforderungen 267
Fazit 273
3. Teilhabewillige Staatsbürgerinnen 275
3.1 Die »Radikalen« und das Parlament 275
Eine Bresche in die politische Sphäre 276
Fixierung auf das Parlament 279
Überschätzung des Gewichts des Parlaments
im politischen Leben 282
3.2 Zusammenarbeit mit den linksliberalen Parteien 284
Die Liberalen als die natürlichen Verbündeten
der Frauenrechtlerinnen? 285
Die Zeit der Enttäuschung 293
Perspektivwechsel 303
3.3 Auf der Schule der Staatsbürgerlichkeit 312
Anspruch auf Professionalität in der
frauenbewegten Vereinspraxis 312
Die Frauen müssen politisiert werden – aber wie? 315
Die »Neue Frau« 320
Schlussfolgerungen aus Kapitel II 326
Kapitel III
»So war selbstverständlich ein fruchtbares und
erquickliches Arbeiten ausgeschlossen«: Kohäsionsverlust
der »radikalen« Frauenbewegung (1908–1919)
1. Neue Paradigmen und Profilverlust
der »Radikalen« 333
1.1 Ambivalente Auswirkungen des
Vereinsgesetzes von 1908 334
Das Reichsvereinsgesetz von 1908 334
Die Frage des Beitritts von Frauen zu
politischen Parteien 336
Eine zweischneidige Sache für die »Radikalen« 341
1.2 Ideologische Konflikte innerhalb der
Frauenstimmrechtsbewegung 343
Das allgemeine, gleiche Wahlrecht für
beide Geschlechter 344
Das auf die Frauen ausgedehnte Zensuswahlrecht 346
Das demokratische Wahlrecht nur für Frauen? 348
1.3 Persönliche Konflikte an der Spitze der »Radikalen« 354
Das Dreigestirn an der Spitze zerfällt 355
Innerer Dissens 357
Strukturelle Schwäche der »radikalen«
Frauenbewegung 363
2. Die »Radikalen« und der Krieg 367
2.1 Weiblicher Pazifismus in Deutschland
vor dem Ersten Weltkrieg 369
Feminismus und Pazifismus zu Beginn des
20. Jahrhunderts 370
Der Nationale Frauendienst 373
Erste Reaktionen der »Radikalen«
auf den Ausbruch des Krieges 376
2.2 Pazifistisches Engagement von Frauen 383
Die internationale Frauenfriedensbewegung
auf dem Haager Kongress 1915 383
Die deutsche Sektion des »Internationalen
Frauenausschusses für einen dauernden Frieden« 390
Pazifistisches Engagement in gemischtgeschlechtlichen
Friedensorganisationen 392
3. Epilog: Was wurde nach dem Krieg aus den »Radikalen«? 401
Minna Cauer verlässt die feministische Bühne 404
Neue Prioritätensetzung in der Zwischenkriegszeit 409
Schlussfolgerungen aus Kapitel III 416
Schluss 419
Die Geschichte eines Scheiterns? 419
Feminismus und Politik 421
Ausgeschlossene Staatsbürgerinnen und unsichtbare
Subjekte der Geschichte 424
Quellen 427
1. Ungedruckte Quellen 427
2. Periodika 427
3. Gedruckte Quellen 428
Literatur 433
1. Methodologische und historiographische Fragen 433
2. Deutsche Sozial- und Politikgeschichte 435
3. Frauengeschichte und Frauenbewegungsgeschichte 439
Anhang 453
Vorstandsmitglieder des Verbands fortschrittlicher
Frauenvereine (VfF) und des Deutschen Verbands für
Frauenstimmrecht (DVF) 453
Kurzbiographien 455
Abkürzungen 487
Abbildungsnachweis 488
Danksagung 489

Pressestimmen


»Briatte hat die ›radikale‹ Frauenbewegung auf ihrem Weg ganz offenbar mit Sympathie begleitet. Dies hat jedoch nie ihren wissenschaftlichen Blick getrübt, sodass eine exzellente Arbeit entstanden ist.« Rolf Löchel, literaturkritik.de, 02.03.2020

»Die Lektüre des anschaulich strukturierten Buches eignet sich sowohl als Einstieg und Überblick als auch für vertiefende Studien zur vernachlässigten Geschichte linksliberaler Bestrebungen von Frauen im Kaiserreich. Briatte greift wichtige Thesen aus der Forschung zur Frauenbewegungsgeschichte auf und entwickelt sie am Untersuchungsmaterial weiter. […] Neu ist darüber hinaus die Betrachtung der ›Radikalen‹ als ein eigenständiges Netzwerk von Frauen, die sowohl auf persönlicher als auch auf politische Ebene miteinander agierten. Dies unterscheidet die Perspektive von einer reinen Organisationsgeschichte und verleiht den dargestellten Akteurinnen eine Lebendigkeit, die hilft zu verstehen, wie im Kaiserreich um Ideal und Wirklichkeit gerungen werden musste, weil heute selbstverständliche Grundrechte als »radikal‹ galten.« Andreas Neumann, H-Soz-Kult, 18.05.2020

»Anne-Laure Briatte gebührt das Verdienst, mit ihrer 2013 in Frankreich erschienenen und nun in deutscher Sprache vorliegenden Dissertation eine erste Gesamtdarstellung des sich selbst als ›radikal‹ bezeichnenden Flügels der deutschen Frauenbewegung erarbeitet zu haben.« Sylvia Schraut, DAMALS, 15.06.2020

»Briatte bietet […] eine überzeugende Darstellung, die sowohl Details zu den speziellen Tätigkeits- und Problemfeldern wie einen Überblick der Entwicklung dieses ›radikalen‹ Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung liefert.« Laura Pachtner, Sehepunkte, 15.10.2020

»Anne-Laure Briatte beschreibt in ihrer Arbeit das politische Handeln der ›Radikalen‹ als gesellschaftliches Reformprojekt.« Helke Dreier, Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 77, Mai 2021

»Auch damals waren die Radikalen, ganz wie heute, eine Minderheitenströmung innerhalb der Frauenbewegung. Aber sie waren die Provokantesten, im Denken wie Handeln. Und die Erfolgreichsten. Das hat die Französin Anne-Laure Briatte nun in ihrer beeindruckenden Studie […] recherchiert und belegt.« Alice Schwarzer, EMMA, Juli/August 2022

»Dennoch gab es zu den Radikalen bisher, hundert Jahre danach, erstaunlicherweise keine eigenständige Forschungsarbeit. Es blieb einer französischen Historikerin, […] Anne-Laure Briatte, vorbehalten, sich diesen Radikalen zuzuwenden. Unter dem Titel ›Bevormundete Staatsbürgerinnen‹ erkundet sie auf über 420 Seiten die kühne, mitreißende Geschichte der Radikalen, berichtet über ihre Erfolge und Konflikte, über Siege und Niederlagen, über ihre Strategien und Beziehungen.« Kerstin Wolff, EMMA, Juli/August 2022

Leseprobe


Einleitung
Im geistigen und politischen Brodeln des Vormärz, das in die Revolution von 1848/49 mündete, wurden sich einige »fortschrittliche Frauen« in den deutschen Einzelstaaten ihres gemeinsamen Schicksals bewusst, das in einer weitgehenden Rechtlosigkeit und vielfachen gesellschaftlichen und rechtlichen Einschränkungen bestand. Die sächsische Schriftstellerin und Publizistin Louise Otto, die heute als Initiatorin der deutschen Frauenbewegung gilt, erregte einiges Aufsehen mit ihrem Leserbrief in den Sächsischen Vaterlandsblättern: »Die Teilnahme der Frauen an den Interessen des Staates ist nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht.« Diese Idee hatte die Französin Olympe de Gouges schon in ihrer Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin (1791) in abgewandelter Form vorgebracht, in der sie auf die Universalität der Menschenrechte hinwies. Trotz des reaktionären Windes, der nach der Revolution von 1848/49 wehte, bildete sich ab der Mitte der 1860er Jahre eine deutsche Frauenbewegung, die erneut an der essentialistischen Sichtweise auf die »Natur der Frauen« rüttelte und die Universalität der Menschenrechte einforderte. Hedwig Dohm, eine engagierte Schriftstellerin aus Berlin, die ihrer Zeit weit voraus war, brachte 1876 diese Forderung nach politischer Teilhabe hervor, und zwar mit der einfachen Begründung: »Die Menschenrechte haben kein Geschlecht.«
Die Frauen, die sich am Ende der 1880er Jahre unter dem Banner des »radikalen« Flügels der deutschen Frauenbewegung sammelten, gingen noch weiter in ihrem Willen, an der Gesellschaft ihrer Zeit mit allen dazugehörigen Bürgerrechten teilzuhaben, als sie 1901 erklärten:
»Wir sind Bürgerinnen des Staates, folglich haben wir das volle Recht wie jeder Bürger, uns mit allen Angelegenheiten des öffentlichen Lebens zu beschäftigen, d. h. also politisch aktiv zu sein. […] Es ist unwürdig, die Bürger des Deutschen Reiches unter dem Druck einer politischen Unmündigkeit zu halten […].«
Dieses Zitat zeigt, dass sich die »radikalen« Frauenrechtlerinnen im Deutschen Kaiserreich als Staatsbürgerinnen verstanden, die ungerechterweise bevormundet wurden. Sie strebten danach, ihre bürgerlichen Rechte und Pflichten auszuüben. Doch drängten die Gesetze sie unter dem Vorwand aus der Staatsbürgergemeinschaft, dass sie Frauen seien, und stellten sie unter die Vormundschaft ihres Vaters oder Ehemannes. Die deutschen Frauenrechtlerinnen vom Ende des 19. Jahrhunderts waren nicht bereit, diese Situation noch länger hinzunehmen, ebenso wenig wie die normativen Diskurse über die Geschlechterrollen, auf denen sie beruhte.
Die ökonomischen und sozialen Veränderungen ab dem Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Trennung von Familien- und Arbeitsbereich vorangetrieben. Wie die Historikerin Karin Hausen gezeigt hat, ging diese Trennung mit einer Aufteilung der Geschlechterrollen einher. Dies führte letztendlich zu einer normativen Definition einander gegensätzlicher und hierarchisierter geschlechterspezifischer Eigenschaften, die als natürlich und damit als unumstößlich charakterisiert wurden. Aus diesen Gründen meinten sämtliche Gegnerinnen und Gegner der Gleichheit der Geschlechter auch angeben zu können, dass die Frauen von Natur aus weder in der Lage noch dazu berufen seien, in politischen Angelegenheiten mitzuwirken. Letztere konnten sich auf Denker des europäischen Bürgertums aus dem späten 18. und 19. Jahrhundert berufen, beispielsweise auf Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte, die diese Hierarchisierung mit einem philosophischen Unterbau versehen hatten.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand etwas, das bald schon die »Frauenfrage« genannt wurde. Die Industrialisierung Deutschlands zwang die Frauen aus ärmeren Schichten, außerhalb des Hauses zu arbeiten: als Heim- oder als Fabrikarbeiterinnen und später auch im tertiären Sektor. Sie führte auch dazu, dass die Lebenswege von manchen bürgerlichen Frauen sich veränderten. Die ledig Gebliebenen (gleichgültig, ob freiwillig oder nicht), die zu früheren Zeiten im mehrgenerationellen Haushalt integriert waren, waren auf Grund der veränderten Arbeits- und Produktionsweisen mehr und mehr gezwungen, eine bezahlte Arbeit außerhalb des kleiner gewordenen Haushalts aufzunehmen. Aus diesen Gründen wurde die Frage nach ihrem Zugang zum Arbeitsmarkt (und damit zur Bildung) für Generationen von Frauen wichtig, die durchweg das gleiche Schicksal der Ausbildungs- und Ressourcenlosigkeit teilten. Einige von ihnen begannen sich dann zu organisieren, um sich gemeinsam ihrer sozialen und ökonomischen Bevormundung zu entledigen.
Die Frauenbewegung, die ab der Mitte der 1860er Jahre in Deutschland entstand, verfolgte vor allem das Ziel, die Frauenbildung zu verbessern und berufliche Perspektiven für Frauen zu entwickeln. Zahlreiche Frauenvereine rückten die soziale Arbeit für mittel- und chancenlose Frauen in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Clara Zetkin gründete 1890, nachdem das Sozialistengesetz (1878–1890) nicht mehr verlängert worden war, die Arbeiterinnenbewegung, die sie primär als Frauenflügel der Arbeiterbewegung und nicht als Frauenbewegung im feministischen Sinne verstand. Gemäß der marxistischen Ideologie räumte sie den ökonomischen Zielsetzungen den höchsten Stellenwert ein. Ab Mitte der 1890er Jahre begann die deutsche Frauenbewegung sich entlang der bestehenden sozialen Grenzen zu teilen: in eine »bürgerliche« und eine »proletarische« Frauenbewegung. In diesem Prozess bildete sich ein »radikaler« Flügel in der »bürgerlichen« Frauenbewegung. Ihre Lesart der »Frauenfrage« stellten die »Radikalen« wie folgt dar:
»Die Frauenfrage ist zwar zum großen Teile Nahrungsfrage, aber vielleicht in noch höherem Maße Kulturfrage […], in allererster Linie aber ist sie Rechtsfrage, weil nur von der Grundlage verbürgter Rechte, nicht idealer […] an ihre sichere Lösung überhaupt gedacht werden kann.«
Die »radikalen« Frauenrechtlerinnen unterschieden sich vom »gemäßigten« Flügel durch die Priorität, die sie dem Kampf für die volle rechtliche Gleichstellung beimaßen. Sie verstanden schnell, dass sie über die Stimmabgaben der Männer, die als einzige wählen durften, keine rechtliche Gleichstellung erlangen würden, und setzten sich deshalb als erstes Ziel, die gleichen staatsbürgerlichen Rechte zugesprochen zu bekommen. Die Prämisse lautete, dass Frauen mittels des Wahlrechts die Gesetzestexte mitgestalten könnten. Gesetze allein verbrieften ihre Rechte – alles andere waren Konzessionen an die Frauen, Teilrechte, die jederzeit wieder aufgehoben werden konnten. Das war zumindest die Argumentationslinie, die Hedwig Dohm so auf den Punkt brachte: »Die Radikalen fordern alle Freiheiten und Rechte unbedingt und uneingeschränkt, in der Meinung, daß aus lauter Bischens (ein bischen Freiheit, ein bischen Beruf) doch nur etwas An- und Zusammengeflicktes wird.«
Diese Forderung war bei den »radikalen« Frauenrechtlerinnen in ein großes gesellschaftliches Reformprojekt eingebettet, das über die spezifischen Fraueninteressen weit hinausging. Folglich war dieser Feminismus nicht in dem Sinne »radikal«, dass er mit Unnachgiebigkeit und ausschließlich für die Fraueninteressen betrieben wurde; er war »radikal«, weil er das Problem des rechtlichen und gesellschaftlichen Status von Frauen an den Wurzeln (lat. radix) packte, d. h. die soziale und politische Ordnung in Frage stellte, auf der dieser beruhte. Mit den anthropologischen Überzeugungen, die sie hatten, rückten die »radikalen« Frauenrechtlerinnen die Selbstständigkeit des Individuums ins Zentrum ihrer Kämpfe und sahen in jedem Subjekt eine potenzielle Bürgerin oder einen potenziellen Bürger, die oder der sich durch die Teilhabe am Staat verwirklichen sollte. Doch war dies nur möglich, wenn das Kaiserreich sich in einen demokratischen, sozialen und pluralistischen Staat verwandeln würde, an dem Männer und Frauen gleichermaßen beteiligt wären.
Von dieser unauflösbaren Verschränkung bei den »radikalen« Frauenrechtlerinnen zwischen der Frauenbewegung und dem Willen zur Beteiligung an den »großen Fragen« ihrer Zeit ausgehend, soll in diesem Buch die Analyse der »radikalen« Frauenbewegung entlang folgender Fragestellung entwickelt werden: In welchem Maße trug die »radikale« Frauenbewegung dazu bei, die soziale und politische Ordnung in Deutschland umzustoßen und andere Repräsentationen als jene, auf denen die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs gegründet war, hervorzubringen? Die »Radikalen« haben sehr wohl die politische Dimension ihres Projektes erkannt, so dass sie sich selbst ab dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auch als politische Frauenbewegung bezeichneten. Die Verschränkung zwischen ihren genuin feministischen Forderungen und jenen nach einer politischen Reform des Landes ist komplex und verlangt eine sehr vielschichtige Vorgehensweise.
Ebenen der Reflexion und theoretische Grundlagen
Theoretische Grundlagen
Wie viele ihrer Zeitgenossen aus dem Bildungsbürgertum, aus dem sie zu großen Teilen stammten, waren die deutschen Frauenrechtlerinnen von der Notwendigkeit überzeugt, angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, denen die deutsche Gesellschaft ausgesetzt war, aktiv zu werden. Die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 war erfolgreich vollzogen werden; doch die innere Vereinigung, d. h. die Integration aller gesellschaftlichen Gruppen und nationalen Minderheiten in einer Nation, gestaltete sich schwieriger. Die Integration von Frauen, aber vor allem des Arbeitermilieus sowie der Katholiken, der Juden und der nicht-deutschsprachigen Minderheiten im Kaiserreich schien lange in weiter Ferne.
Nicht nur strebten die Frauen danach, in die Nations- und Bürgergemeinschaft integriert zu werden; auch jene, die sich in der Frauenbewegung engagierten, waren, gleich welcher Strömung sie angehörten, durch die »Utopie [beflügelt], Frauen könnten eine bessere Welt schaffen, wenn man(n) sie nur wirken ließe«. Die Frauenbewegungen stellten sich als ein Unterfangen dar, das dem Fortschritt der Menschheit gewidmet war. In einer Zeit des technischen und industriellen Fortschritts und des Fortschrittsoptimismus standen die humanistischen Werte im Zentrum der Aufmerksamkeit der Repräsentantinnen und Repräsentanten eines Bildungsbürgertums, das sich in der Nachfolge der Aufklärung und des Frühliberalismus sah. Im Folgenden werden also die theoretischen Vorannahmen der »Radikalen« in ihren Kämpfen untersucht und die Frage erörtert, welche Deutungsmuster sie in ihrer Auseinandersetzung mit der politischen und sozialen Realität des wilhelminischen Deutschlands einsetzten.
Leitfragen
Die »radikale« Frauenbewegung stellte als soziale Bewegung durch ihre kollektiven Aktionen die etablierte soziale und politische Ordnung in mehrfacher Hinsicht in Frage. Zuerst ging es darum, die Frauen als Bürgerinnen des Staates in die Bürgergemeinschaft zu integrieren. Die »Radikalen« wollten es den Frauen ermöglichen, gleichrangig mit den Männern am politischen Leben teilzunehmen, d. h. als selbstständige und verantwortlich handelnde Subjekte zu agieren. Dies implizierte wiederum, dass das Geschlechterverhältnis in der männlich dominierten Gesellschaft des wilhelminischen Deutschlands neu definiert werden musste. Der Begriff »Gender« drängt sich in der Analyse dessen, was bei der »radikalen« Frauenbewegung auf dem Spiel stand, geradezu auf. Unter »Gender« werden sämtliche sozialen und kulturellen Zuschreibungen zur Geschlechteridentität verstanden, im Gegensatz zum Begriff »Geschlecht«, der die männliche oder weibliche biologische Identität beschreibt. Die US-amerikanische Historikerin Joan W. Scott hat die Nützlichkeit des Gender-Begriffs für die Analyse von gesellschaftlichen Machtbeziehungen mit ihrer zweidimensionalen Definition aufgezeigt: »1. Gender ist ein konstitutives Element von gesellschaftlichen Beziehungen und gründet auf wahrgenommenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern; 2. Gender ist eine wesentliche Art und Weise, in der Machtbeziehungen Bedeutung verliehen wird«. Sie verdeutlicht, wie Machtbeziehungen in der Gesellschaft reproduziert werden. Das »Männliche« und »Weibliche« als soziale und kulturelle Konstruktionen aufzufassen, ermöglicht es, deren Veränderlichkeit in Zeiten und kulturellen Räumen sowie als Konsequenz daraus die Subjektivität der normativen Diskurse über männliche und weibliche Identitäten wahrzunehmen.
Daraus folgt: Sobald den Frauen ihr gemeinsames Schicksal bewusst wurde und sie die mit dem weiblichen Gender verbundenen Einschränkungen als Instrument für die Männer erkannten, ihre geschlechtsgebundenen Privilegien zu wahren, konnten sie diese Konstruktionen angreifen. So verfuhren die »radikalen« Frauenrechtlerinnen mit dem Ziel, jene Zwänge, die mit dem Status als Frau einhergingen, einen nach dem anderen abzustreifen und zur Selbstständigkeit zu gelangen. Nach Alice Primi hatten die »Radikalen« ein sehr deutliches »Genderbewusstsein« (frz. »conscience de genre«), das sie als »das Bewusstsein« kennzeichnet, »den gleichen Zwängen zu unterliegen wie alle Frauen, die ihnen ›als Frauen‹ auferlegt sind, Zwänge, die zugleich jene sind, die sie als ›Frauen‹ definieren (als identitätsbildende und Verhaltensnormen) und die die Kategorie ›Frauen‹ willkürlich bestimmen (als Anweisungen und Einschränkungen, die den Status und die soziale Funktion definieren)«.
Die wichtigsten Denker der Aufklärung und ihre Nachfolger hatten ihr Versprechen von Universalität nicht eingehalten. Der beste Beleg dafür war das 1871 in die Verfassung des deutschen Kaiserreichs aufgenommene »allgemeine« Wahlrecht für die Wahlen zum Reichstag, das nur für Männer galt. Streng genommen war dieses Wahlrecht lediglich ein »unbeschränktes Männerwahlrecht«, wie die Historikerin Gisela Bock zu Recht hervorgehoben hat. Die »radikalen« Frauenrechtlerinnen betonten die ethische Notwendigkeit, die Menschenrechte für alle gelten zu lassen, ohne Unterscheidung nach Geschlecht oder Klasse. Sie vertraten den Standpunkt, dass ein Volk nicht als »frei« gelten konnte, wenn ganze Teile davon es nicht waren, d. h. nicht selbstbestimmt handeln konnten. Ihnen ging es darum, aus der deutschen Nation eine Nation von »freien«, d. h. selbstständigen Individuen zu machen. Dies war in ihren Augen eine unumgängliche Bedingung für den Fortschritt der Menschheit.
Diese Fragenkomplexe berührten die (Geschlechter-)Identität, das heißt den Status der Frauen, und die Ethik, also den Status des Individuums. Hinzu kam noch ein spezifisch deutscher Fragenkomplex zur Politik, und zwar im Hinblick auf die deutsche Nation: Indem die »radikalen« Frauenrechtlerinnen für ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten eintraten, wurden sie zu Vorkämpferinnen für die Parlamentarisierung und Demokratisierung des politischen Systems. Durch ihre deutliche Unterstützung des repräsentativen Parlamentarismus trugen sie zur Modernisierung der konstitutionellen Monarchie in Deutschland bei, eines politischen Systems, das sowohl monarchische Elemente als auch Ansätze eines demokratischen Rechtsstaates enthielt. In diesem Sinne war die »radikale« Frauenbewegung Teil einer linken politischen Opposition im Deutschen Kaiserreich. Es wird im Folgenden deshalb auch nach Gemeinsamkeiten und Kooperationsformen mit anderen Reformbewegungen sowie anderen politischen und intellektuellen Akteuren gefragt – waren sie nicht selbst Intellektuelle, die sie an jenem intellektuellen Austausch beteiligt waren? Hiermit soll die Dynamik freigelegt werden, die durch die Begegnung jener Bewegungen und ihren Akteurinnen und Akteuren entstand. Dadurch wird ihr Beitrag zum Aufkommen politischer Visionen deutlich, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr oder minder durchsetzen sollten.

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