Literarisches Werk




Übersicht


Epoche : Romantik
Originalsprache : Deutsch
Genre : Bildungsroman
Umfang : ca. 896 Seiten
Besondere Liste : Meyers Kleines Lexikon - Literatur, Deutsche Literatur auf einen Blick
Verlag : Insel Verlag

Kurzbeschreibung


»Titan« ist ein Roman von Jean Paul. 1800 wurde das literarische Werk zuerst veröffentlicht.

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Kurzkritiken


     
langweilend
Selten scheitere ich beim Lesen an einem Buch. Das ist eins davon. Ich fand einfach keinen Zugang dazu. Wenn es jemand geschafft hat, bitte ich um Ratschlag :)



An einem schönen Frühlingsabend kam der junge spanische Graf von Cäsara mit seinen Begleitern Schoppe und Dian nach Sesto, um den andern Morgen nach der borromäischen Insel Isola bella im Lago maggiore überzufahren. Der stolz-aufblühende Jüngling glühte von der Reise und von dem Gedanken an den künftigen Morgen, wo er die Insel, diesen geschmückten Thron des Frühlings, und auf ihr einen Menschen sehen sollte, der ihm zwanzig Jahre lang versprochen worden. Diese zweifacheGlut hob den malerischen Heros zur Gestalt eines zürnenden Musengottes empor. In die welschen Augen zog seine Schönheit mit einem größern Triumphe ein als in die engen nördlichen, wovon er herkam; in Mailand hatten viele gewünscht, er wäre von Marmor und stände mit ältern versteinerten Göttern entweder im farnesischen Palast oder im klementinischen Museum oder in der Villa Albani; ja hatte nicht der Bischof von Novara mit seinem Degen an der Seite vor wenigen Stunden bei Schoppen, der zuletzt ritt, nachgefragt, wer es sei? Und hatte nicht dieser mit einer närrischen Quadratur seines Runzeln-Zirkels um die Lippen weitläufig versetzt (um dem geistlichen Herrn Licht zu geben): »Mein Telemach ists, und ich mache den Mentor dabei – ich bin die Rändelmaschine und der Prägstock, der ihn münzt – der Glättzahn und die Plattmühle, die ihn bohnt – der Mann, der ihn regelt«?

Die jugendlich warme Gestalt Cesaras wurde durch den Ernst eines nur in die Zukunft vertieften Auges und eines männlichfestgeschlossenen Mundes und durch die trotzige Entschlossenheit junger frischer Kräfte noch mehr veredelt; er schien noch ein Brennspiegel im Mondlicht, oder ein dunkler Edelstein von zu vieler Farbe zu sein, den die Welt, wie andere Juwelen, erst durch Hohlschleifen lichtet und bessert. –

In dieser Nähe zog ihn die Insel, wie eine Welt die andere, immer heftiger an. Seine innere Unruhe stieg durch die äußere Ruhe. Noch dazu stellte Dian, ein Grieche von Geburt und ein Künstler, welcher Isola bella und Isola madre öfters umschifft und nachgezeichnet hatte, ihm diese Prachtkegel der Natur in feurigen Gemälden näher vor die Seele; und Schoppe gedachte des wichtigen Menschen öfters, den der Jüngling morgen zum ersten Male sehen sollte. Als man unten auf der Gasse einen festschlafenden Greis vorübertrug, dem die untergehende Sonne Feuer und Leben in das markige starkgegliederte Angesicht warf und der eine nach italienischer Sitte aufgedeckt getragne – Leiche war: so fragt' er erschrocken und schnell die Freunde: »Sieht mein Vater so aus?«

Was ihn nämlich mit so heftigen Bewegungen der Insel zutreibt, ist folgendes: Auf Isola bella hatt' er die drei ersten irdischen Jahre mit seiner Schwester, die nach Spanien, und neben seiner Mutter, die unter die Erde ging, mitten in den hohen Blumen der Natur liegend süß vertändelt und verträumt – die Insel war für den Morgenschlummer des Lebens, für seine Kindheit, Raffaels übermaltes Schlafgemach gewesen. Aber er hatte nichts davon im Kopfe und Herzen behalten als in diesem ein schmerzlich süßes tiefes Aufwallen bei dem Namen, und in jenem das Einhorn, das als Familienwappen der Borromäer auf der obersten Terrasse der Insel steht.

Nach dem Tode der Mutter versetzte ihn sein Vater aus der welschen Blumenerde – einige blieb an den Pfahlwurzeln hängen – in den deutschen Reichsforst, nämlich nach Blumenbühl – im Fürstentum Hohenfließ, das den Deutschen so gut wie unbekannt ist –; hier ließ er ihn im Hause eines biedern Edelmannes so lange erziehen, oder deutlicher und allegorischer, er ließ hier die pädagogischen Kunstgärtner so lange mit Gießkannen, Inokuliermessern und Gartenscheren um ihn laufen, bis sie an den hohen schlanken Palmbaum voll Sagomark und Schirmstacheln mit ihren Kannen und Scheren nicht mehr langen konnten.

Jetzt soll er nach der Rückreise von der Insel aus dem Feldbeete des Landes in den Loh- und Treibkübel der Stadt und auf das Gestelle des Hofgartens kommen, mit einem Worte nach Pestitz, der Universität und Residenzstadt von Hohenfließ, deren Anblick sogar bisher sein Vater ihm hart verboten hatte.

Und morgen sieht er diesen Vater zum – erstenmal! – Er mußte brennen vor Verlangen, da sein ganzes Leben eine Anstalt zu dieser gemeinschaftlichen Landung war, und seine Pflegeeltern und Lehrer eine chalkographische Gesellschaft waren, die den Autor seines Lebensbuches so herrlich vor das Titelblatt in Kupfer stach. Sein Vater, Gaspard de Cesara, Ritter des goldnen Vlieses (ob spanischer oder österreichischer, wünscht' ich selber genauer zu wissen), ein vom Schicksal dreischneidig und glänzend geschliffner Geist, hatte in der Jugend wilde Kräfte, zu deren Spiel nur ein Schlachtfeld oder Königreich geräumig gewesen wäre und die sich im vornehmen Leben so wenig bewegen konnten als ein Seekraken im Hafen – er stillte sie durch Gastrollen in allen Ständen und Lust- und Trauerspielen, durch das Treiben aller Wissenschaften und durch eine ewige Reise – er wurde mit großen und kleinen Menschen und Höfen vertraut und oft verflochten, zog aber immer als ein Strom mit eignen Wellen durchs Weltmeer. – Und jetzt, nachdem er die Land- und Seereise um das Leben, um dessen Freuden und Kräfte und Systeme gemacht, fährt er (besonders da ihm der Affe der Vergangenheit, die Gegenwart, immer nachläuft) in seinem Studieren und im geographischen Reisen fort, aber stets für wissenschaftliche Zwecke, wie er denn eben die europäischen Schlachtfelder bereiset. Übrigens ist er gar nicht betrübt, noch weniger froh, sondern gesetzt; auch hasset und liebt, oder tadelt und lobt er die Menschen so wenig wie sich, sondern schätzet jeden in seiner Art, die Taube in ihrer und den Tiger in seiner. Was oft Rache scheint, ist bloß das harte kriegerische Durchschreiten, womit ein Mann Lercheneier und Ähren ertritt, der nie fliehen und fürchten kann, sondern nur anrücken und stehen. – –

Ich denke, die Ecke ist breit genug, die ich hier aus der Whistonschen Kometenkarte von diesem Schwanzsterne für die Menschen abgeschnitten. Ausbedingen will ich, eh' ich weiterrede, mir dieses, daß ich Don Gaspard auch zuweilen den Ritter heißen dürfe, ohne das goldne Vlies anzuhängen; – und daß ich, zweitens, nicht von meiner Höflichkeit gegen die kurze Leser-Memorie genötigt werde, seinem Sohne Cesara (unter diesem Namen soll der Alte nie auftreten) den Taufnamen abzuzwicken, der doch Albano heißet. –

Da jetzt Don Gaspard aus Italien nach Spanien ging: so hatt' er durch Schoppe unsern Albano oder Cesara aus Blumenbühl hierher führen lassen; ohne daß man weiß, warum so spät. Wollt' er in den vollen Frühling der jungen Zweige schauen? – Wollt' er dem Jüngling einige Bauernregel im hundertjährigen Kalender des Hoflebens aufschlagen? – Wollt' ers den alten Galliern oder den jetzigen Kapbewohnern nachmachen, die ihre Söhne nur waffenfähig und erwachsen vor sich ließen? – Wollt' er nichts weniger als das? – Nur so viel begreif' ich, daß ich ein gut williger Narr wäre, wenn ich mir im Vorhofe des Werks die Last aufbürden ließe, von einem so sonderbaren Manne mit einer um so viele Grade deklinierenden Magnetnadel schon aus so wenigen Datis eine Wilkesche magnetische Neigungskarte zu zeichnen und zu stechen; – er, aber nicht ich bin ja der Vater seines Sohns, und er soll wissen, warum er ihn erst bärtig vorbeschieden.

Als es 23 Uhr (die Stunde vor Sonnenuntergang) schlug und Albano die langweiligen Schläge addieren wollte: war er so aufgeregt, daß er nicht imstande war, die lange Tonleiter zu ersteigen; er mußte hinaus ans Ufer des Lago, in welchem die aufgetürmten Inseln wie Meergötter aufstehen und herrschen. Hier stand der edle Jüngling, das beseelte Angesicht voll Abendrot, mit edeln Bewegungen des Herzens und seufzte nach dem verhüllten Vater, der ihm bisher mit Sonnenkraft, wie hinter einer Nebelbank, den Tag des Lebens warm und licht gemacht. Dieses Sehnen war nicht kindliche Liebe – diese gehörte seinen Pflegeeltern an, weil kindliche nur gegen ein Herz entsteht, woran wir lange lagen, und das uns gleichsam mit den ersten Herzblättern gegen kalte Nächte und heiße Tage beschirmte –; seine Liebe war höher oder seltener. Über seine Seele war der Riesenschatten des väterlichen Bildes geworfen, der durch Gaspards Kälte nichts verlor; Dian verglich sie mit der Ruhe auf dem erhabenen Angesichte der Juno Ludovici; und der warme Sohn verglich sie mit einer andern schnellen Kälte, die im Herzen oft neben zu großer fremder Wärme einfällt, wie Brennspiegel gerade in den heißern Tagen matter brennen. Ja er hoffte sogar, er vermöge vielleicht dieses so quälend ans Eisfeld des Lebens angefrorne Vaterherz durch seine Liebe abzulösen; der Jüngling begriff nicht, wie einem treuen warmen Herzen zu widerstehen sei, wenigstens seinem.

Dieser Heros, in der ländlichen Kartause und mehr unter der Vorwelt als Mitwelt aufgewachsen, legte an alles antediluvianische Riesenellen; die Unsichtbarkeit des Ritters machte einen Teil von dessen Größe aus, und die Mosisdecke verdoppelte den Glanz, indem sie ihn verhing. – Überhaupt zog unsern Jüngling ein sonderbarer Hang zu übermäßigen Menschen hin, wovor sich andere entsetzen. Er las die Lobreden auf jeden großen Menschen mit Wollust, als wären sie auf ihn; und wenn das Volk ungewöhnliche Geister eben darum für schlimme hält – wie es alle seltene Petrefakta für Teufelsglieder nimmt –, so wohnte umgekehrt in ihm immer neben der Bewunderung die Liebe an, und seine Brust wurde immer zugleich weit und warm. Freilich hält jeder Jüngling und jeder große Mensch, der einen andern für groß ansieht, ihn eben darum für zu groß. – Aber in jedem edeln so Herzen brennt ein ewiger Durst nach einem edlern, im schönen nach einem schönern; es will sein Ideal außer sich in körperlicher Gegenwart, mit verklärtem oder angenommenem Leibe erblicken, um es leichter zu erstreben, weil der hohe Mensch nur an einem hohen reift, wie man Diamanten nur an Diamanten glänzend macht. – Will hingegen ein Literator, ein Kleinstädter, ein Zeitungsträger oder Zeitungsschreiber einen großen Kopf zu Gesicht bekommen und ist er auf einen großen Kopf ebenso ersessen wie auf eine Mißgeburt mit drei Köpfen – oder auf einen Papst mit ebensoviel Mützen – oder auf einen ausgestopften Haifisch – oder auf eine Sprach- und Buttermaschine: so tut ers nicht, weil ein warmes, seinen innern Menschen beseelendes Ideal von einem großen Manne, Papste, Haifische, Dreikopfe und Buttermodelle ihn drängt und treibt, sondern weil er frühmorgens denkt: »Es soll mich doch wundern, wie der Kauz aussieht«, und weil ers abends bei einem Glase Bier berichten will. –

Albano blickte am Ufer mit steigender Unruhe über das glänzende Wasser nach dem heiligen Wohnplatze der vergangnen Kindheit, der vergangnen Mutter, der weggezognen Schwester hin – die Freudenlieder schwammen auf den fernen Barken her und berauschten ihn – jede laufende Welle, die schäumende Brandung trieb eine höhere in seinem Busen auf – die Riesenstatue des heiligen Borromäus1, die über die Städte wegsah, verkörperte den Erhabnen (seinen Vater), der sich in seinem Herzen aufrichtete, und die blühende Pyramide, die Insel, wurde der väterliche Thron – die funkelnde Berg- und Gletscherkette wand sich fest um seinen Geist und zog ihn empor zu hohen Wesen und hohen Gedanken. – –

Die erste Reise, zumal wenn die Natur nichts als weißen Glanz und Orangeblüten und Kastanienschatten auf die lange Straße wirft, beschert dem Jüngling das, was oft die letzte dem Mann entführt – ein träumendes Herz, Flügel über die Eisspalten des Lebens und weit offne Arme für jede Menschenbrust.

Er ging zurück und bat seine Freunde mit seinem siegenden Auge, noch diesen Abend abzuschiffen, wiewohl Don Gaspard erst morgen auf die Insel kam. Was er oft nach einer Woche tun wollte, nahm er sich auf den nächsten Tag vor, und endlich tat ers – sogleich. Dian klopfte dem eiligen Boreas voll Liebe auf den Kopf und sagte: »Ungeduldiges Wesen! Du hast hier die Flügel vom Götterboten, und da unten auch!« (auf die Füße zeigend) »Aber glühe dich nur ab! In der schönen Nachmitternacht steigen wir ein, und wenn die Morgenröte am Himmel leuchtet, landen wir an.« – Dian hatte nicht bloß eine artistische Aufmerksamkeit für den wohlgestalteten Liebling, sondern auch eine zärtliche, weil er in Blumenbühl, wo er als Landbaumeister zu tun hatte, oft sein bildender Kinder- und Jugendfreund gewesen war, und weil er jetzt auf der Insel für einige Zeit aus seinen Armen nach Rom entwich. Da der Landbaumeister dasselbe Überströmen im Jüngling für keines hielt, das er im Greise schalt, eine Überschwemmung für keine in Ägypten, obwohl für eine in Holland; und da er für jedes Individuum, Alter und Volk eine andere gleichschwebende Temperatur annahm und in der heiligen Menschennatur keine Saite zu zerschneiden, sondern nur zu stimmen fand: so mußte wohl Cesara am heitern duldenden Lehrer, auf dessen beiden Gesetztafeln nur stand: Freude und Maß!, recht innig hängen, noch inniger als an den – Tafeln selber.

Die Bilder der Gegenwart und der nahen Zukunft und des Vaters hatten die Brust des Grafen so sehr mit Größe und Unsterblichkeit gefüllt, daß er gar nicht begriff, wie jemand sich könne begraben lassen, ohne beide errungen zu haben, und daß er den Wirt, sooft er etwas brachte, – zumal da er immer sang und wie Neapolitaner und Russen in Molltönen – bedauerte, weil der Mann nie etwas wurde, geschweige unsterblich. Das letztere ist Irrtum; denn hier bekommt er seine Fortdauer, und ich nenne und belebe gern seinen Namen Pippo (der abbrevierte Filippo). Als sie endlich gingen und bezahlten, und Pippo einen Kremnitzer Dukaten küßte mit den Worten: »Gelobt sei die heilige Jungfrau mit dem Kinde auf dem rechten Arm«: so erfreuete sich Albano, daß der Vater dem frommen Töchterlein nachschlage, das den ganzen Abend ein Jesuskind wiegte und fütterte. Freilich merkte Schoppe an: auf dem linken Arme trage sie das Kindlein leichter2; aber der Irrtum des guten Jünglings ist ein Verdienst wie die Wahrheit.

Unter dem Glanze des Vollmondes bestiegen sie die Barke und glitten über die leuchtenden Wellen dahin. Schoppe schiffte einige Weine mit ein, »weniger«, sagt' er, »weil auf der Insel nichts zu haben sei, als weil er, wenn das Fahrzeug leck würde, dann nichts auszupumpen brauchte als die Flaschen3; dann höb' es sich wieder«.

Cesara sank schweigend immer tiefer in die dämmernden Schönheiten des Ufers und der Nacht. Die Nachtigallen schlugen begeistert auf dem Triumphtore des Frühlings. Sein Herz wuchs in der Brust wie eine Melone unter der Glocke, und er hob sie immer höher über der schwellenden Frucht. Auf einmal bedacht' er, daß er so den Tulpenbaum des prangenden Morgens und die Kränze der Insel nur wie eine italienische Seidenblume Staubfaden für Staubfaden, Blatt für Blatt zusammenlegen sehe; – da befiel ihn sein alter Durst nach einem einzigen erschütternden Guß aus dem Füllhorn der Natur; er verschloß die Augen, um sie nicht eher zu öffnen als oben auf der höchsten Terrasse der Insel vor der Morgensonne. Schoppe dachte, er schlafe; aber der Grieche erriet lächelnd die Schwelgerei dieser künstlichen Blindheit und band selber vor die großen unersättlichen Augen das breite schwarze Taftband, das als eine weibliche Binde und Spitzenmaske sonderbar und lieblich gegen das blühende, aber männliche Gesicht abstach.

Nun neckten ihn beide freundlich mit mündlichen Nachtstücken von den herrlichen Ufer-Ornamenten, zwischen denen sie zogen. »Wie stolz« (sagte Dian zu Schoppen) »richtet sich dort das Schloß Lizanza und sein Berg, gleich einem Herkules, mit zwölffachen Gürteln aus Weinlaub in die Höhe!« – »Den Grafen« (sagte Schoppe leiser zu Dian) »bringt der Augen-Schmachtriemen um viel. Seht Ihr nicht, Baumeister, poetisch zu reden, den Glimmer von Aronens Stadt? Wie schön legt sie Lunens blanc d'Espagne auf und scheint sich im umgeworfnen Pudermantel des Mondscheins für morgen aufzusetzen und zu putzen! – Doch ist das wenig, sieht man dort den heiligen Borromäus, der den Mond als eine frischgewaschene Nachtmütze aufhat, besser an: steht der Gigant nicht wie der Mikromegas des deutschen Staatskörpers dort, ebenso hoch, ebenso starr und so steif?« –

Der Glückliche schwieg und gab statt der Antwort einen Handdruck der Liebe – er träumte nur die Gegenwart und zeigte, er könne warten und entbehren. Wie ein Kinderherz, dem die Vorhänge und die Nachmitternacht das nahe Weihnachtsgeschenk verdecken, zog er auf dem Lustschiffe mit fester Binde dem nahen Himmelreiche entgegen. Dian trug, soweit es das Doppellicht des Mondscheins und der nachhelfenden Aurora zuließ, eine Zeichnung von dem verhüllten Träumer in sein Studienbuch. – – Ich wollt', ich hätte sie da und säh' es, wie mein Liebling mit dem unterbundenen Sehnerven auf ihr zugleich das gegen die innere Welt gerichtete Auge des Traumes und das gegen die äußere Welt gespitzte Ohr der Aufmerksamkeit anstrengt. Wie schön ist so etwas, gemalt – wieviel schöner, erlebt!

Der Mantel der Nacht wurde dünner und kühler – die Morgenluft wehte lebendig an die Brust – die Lerchen mengten sich unter die Nachtigallen und unter die singenden Ruderleute – und er hörte hinter seiner lichtern Binde die frühen Entdeckungen der Freunde, die in den offnen Städten der Ufer das Menschengewühl aufleben und an den Wasserfällen der Berge bald Himmelsrot, bald Nebel wechseln sahen. – Endlich hing die zerlegte Morgenröte als eine Fruchtschnur von Hesperidenäpfeln um die fernen Kastaniengipfel; und jetzt stiegen sie auf Isola bella aus.

Der verhangne Träumer hörte, als sie mit ihm die zehen Terrassen des Gartens hinaufgingen, neben sich den einatmenden Seufzer des Freudenschauders und alle schnelle Gebete des Staunens; aber er behielt standhaft die Binde und stieg blind von Terrasse zu Terrasse, von Orangendüften durchzogen, von höhern freiern Winden erfrischt, von Lorbeerzweigen umflattert – und als sie endlich die höchste Terrasse erstiegen hatten, unter der der See 60 Ellen tief seine grünen Wellen schlägt, so sagte Schoppe: »Jetzt! jetzt!« – Aber Cesara sagte: »Nein! Erst die Sonne!« Und der Morgenwind warf die Sonne leuchtend durchs dunkle Gezweig empor, und sie flammte frei auf den Gipfeln – und Dian zerriß kräftig die Binde und sagte: »Schau umher!« – »O Gott!« rief er selig erschrocken, als alle Türen des neuen Himmels aufsprangen und der Olymp der Natur mit seinen tausend ruhenden Göttern um ihn stand. Welch eine Welt! Die Alpen standen wie verbrüderte Riesen der Vorwelt fern in der Vergangenheit verbunden beisammen und hielten hoch der Sonne die glänzenden Schilde der Eisberge entgegen – die Riesen trugen blaue Gürtel aus Wäldern – und zu ihren Füßen lagen Hügel und Weinberge – und zwischen den Gewölben aus Reben spielten die Morgenwinde mit Kaskaden wie mit wassertaftnen Bändern – und an den Bändern hing der überfüllte Wasserspiegel des Sees von den Bergen nieder, und sie flatterten in den Spiegel, und ein Laubwerk aus Kastanienwäldern faßte ihn ein Albano drehte sich langsam im Kreise um und blickte in die Höhe, in die Tiefe, in die Sonne, in die Blüten; und auf allen Höhen brannten Lärmfeuer der gewaltigen Natur und in allen Tiefen ihr Widerschein – ein schöpferisches Erdbeben schlug wie ein Herz unter der Erde und trieb Gebirge und Meere hervor. – – O als er dann neben der unendlichen Mutter die kleinen wimmelnden Kinder sah, die unter der Welle und unter der Wolke flogen – und als der Morgenwind ferne Schiffe zwischen die Alpen hineinjagte – und als Isola madre gegenüber sieben Gärten auftürmte und ihn von seinem Gipfel zu ihrem im waagrechten wiegenden Fluge hinüberlockte – und als sich Fasanen von der Madre-Insel in die Wellen warfen: so stand er wie ein Sturmvogel mit aufgeblättertem Gefieder auf dem blühenden Horst, seine Arme hob der Morgenwind wie Flügel auf, und er sehnte sich, über die Terrasse sich den Fasanen nachzustürzen und im Strome der Natur das Herz zu kühlen.

Er nahm, ohne sich umzusehen, verschämt die Hände der Freunde und drückte sie ihnen, damit er nicht sprechen müsse. Das stolze Weltall hatte seine große Brust schmerzlich ausgedehnt und dann selig überfüllt; und da er jetzt die Augen wie ein Adler weit und fest in die Sonne öffnete; und da die Erblindung und der Glanz die Erde verdeckte und er einsam wurde; und die Erde zum Rauch und die Sonne zu einer weißen sanften Welt, die nur am Rande blitzte: so tat sich sein ganzer voller Geist wie eine Gewitterwolke auseinander und brannte und weinte, und aus der reinen blassen Sonne sah ihn seine Mutter an, und im Feuer und Rauch der Erde stand sein Vater und sein Leben eingehüllt.

Still ging er die Terrassen herunter und fuhr oft über die nassen Augen, um den feurigen Schatten wegzuwischen, der auf alle Gipfel und alle Stufen hüpfte. –

Hohe Natur! wenn wir dich sehen und lieben, so lieben wir unsere Menschen wärmer, und wenn wir sie betrauern oder vergessen müssen, so bleibst du bei uns und ruhest vor dem nassen Auge wie ein grünendes abendrotes Gebirge. Ach vor der Seele, vor welcher der Morgentau der Ideale sich zum grauen kalten Landregen entfärbet hat – und vor dem Herzen, dem auf den unterirdischen Gängen dieses Lebens die Menschen nur noch wie dürre gekrümmte Mumien auf Stäben in Katakomben begegnen – und vor dem Auge, das verarmt und verlassen ist und das kein Mensch mehr erfreuen will – und vor dem stolzen Göttersohne, den sein Unglaube und seine einsame, menschenleere Brust an einen ewigen unverrückten Schmerz anschmieden – – vor allen diesen bleibst du, erquickende Natur, mit deinen Blumen und Gebirgen und Katarakten treu und tröstend stehen, und der blutende Göttersohn wirft stumm und kalt den Tropfen der Pein aus den Augen, damit sie hell und weit auf deinen Vulkanen und auf deinen Frühlingen und auf deinen Sonnen liegen!

Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 13-23

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2 Treffer

»Die Menschen verraten ihre Absichten nie leichter und stärker, als wenn sie sie verfehlen.«
Komischer Anhang
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»Das Alter ist nicht trübe, weil darin unsere Freuden, sondern weil unsere Hoffnungen aufhören.«
2. Kapitel
Stichworte: Alter, Hoffnung
Aktion:



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Titan
Titan
(Jean Paul)
Insel Verlag, 1983, 903 S., 9783458323716
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