Literarisches Werk




Übersicht


Originalsprache : Deutsch
Umfang : ca. 112 Seiten
Thema : Liebe, Begegnung
Ort : Málaga
Verlag : Tulpe Verlag

Kurzbeschreibung


»Teresa« ist eine Erzählung von Gernod Siering. 2007 wurde das literarische Werk zuerst veröffentlicht.

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Figuren


Ich-Erzähler, Architekt, ca. 30 Jahre
Teresa, seine Sprachlehrerin



Frei jeglicher Sorge sitze ich gegen Mittag im sonnigen Außenbereich der Tetería* unweit des Picassomuseums, trinke einen Yogi-Tee und sinne über die knapp vier in Andalusien verlebten Monate. Es war eine gute Entscheidung, gleich zu Beginn meines Aufenthaltes im Januar und Februar hier in Málaga einen acht- wöchigen Spanischintensivkurs belegt zu haben, er hat die Tage nicht allzu lang werden lassen, mir zu alter Sprachfertigkeit verholfen und sie sogar noch vertieft.Auch die Stadt, für die ich eine gesunde Mischung aus Ab- und Zuneigung empfinde, war eine gute Wahl. Der Lärm in den Straßen, der Lärm in den Häusern, der Lärm in den Menschen, die verfallenen Fassaden und die provinzielle Schickimickijugend – ich werde froh sein, das nicht mehr zu hören und zu sehen und ich werde es vermissen – die verfallenen Fassaden, die älteren Leute in den Churrerías*, das laute Treiben in den Straßen, die Lebendigkeit bis tief in die Nacht und die Stille während der Siesta. Málaga ist mir lieber als Sevilla oder Córdoba, nur Granada mit seinem arabischen Viertel, der ungezwungenen Atmosphäre in den Gassen und Kneipen, dazu den Bergen im Hintergrund, zöge ich jetzt, nachdem ich all diese und noch weitere Städte bereist habe, vor.
Die mir in den letzten Monaten nur gelegentlich aufgestoßene Frage nach meiner beruflichen Zukunft in Deutschland taucht oberflächlich und flüchtig aus dem Gedankenstrom auf. Entgegen meinen Aussichten bin ich heiter gestimmt, die inhaltlich sorgevollen sind kraftlose, das Denken nicht bindende Sätze. Ich fühle mich wohl mit meinem Yogi-Tee in der Sonne, lehne mich an die Hauswand den Blick gegen eine Gruppe Touristen auf dem Weg ins Museum mit der obligatorischen Kamera um den Hals. Ich betrachte sie unaufdringlich und denke dabei an die zurückliegenden Erlebnisse, sehe mich in den Städten und auf den Wanderwegen.
Mir kommt der Berg in den Sinn, welchen ich ganz spontan an einem Sonntag Anfang März zu besteigen versuchte. Um die Mittagszeit trat ich auf die Dachterrasse meiner Wohnung in der Nähe des Picasso- geburtshauses und sah in die Straßen, über die Dächer und schließlich auf die mir schon oft zuvor aufgefal- lene Spitze jenes Berges. Ohne schulische oder private Verpflichtung und in einem vom Vorabend mitgenommenen Zustand, der geistig anspruchsvolle Tätigkeit verwehrte, beschloss ich, ihn zu erklimmen, nahm kurzerhand meinen Rucksack, verstaute darin zwei Wasserflaschen sowie ein wenig zu essen und marschierte los. Das Wetter war angenehm, meine Kleidung luftig und leicht, mein Schritt nicht allzu forsch, dafür aber gleichmäßig. Schneller als vermutet erreichte ich die Stadtgrenze, kam auf einem Feldweg an einem Pferdeclub, dann querfeldein an einem verlassenen Gehöft vorbei und stand nach ungefähr drei Stunden am Fuß des kegelförmigen Massivs. Dem steilen, atemraubenden Anstieg zu Anfang folgte ein mit hüfthohen, stachligen Pflanzen gesäumter, schmaler Pfad, der um den Berg herum, aber nicht zu seiner Spitze heraufzuführen schien. Von mir eingeschlagene Abzweige erwiesen sich bald als Sackgassen, Versuche, direkt zum Gipfel zu laufen, scheiterten an den unangenehmen Stacheln der Pflanzen, die mühelos durch die dünne Hose drangen und meine Schenkel röteten. Bis zum Einbruch der Dunkelheit blieben nur wenige Stunden, das Ziel befand sich in respektabler Entfernung, dennoch nahm ich im Zutrauen auf meine Kraft einen weiteren Abzweig, welcher sich bald wieder aufteilte. Der erste Weg war eine Sackgasse, der zweite führte lang und beständig höher bis zu einer Steinlache, über der sich ein Felsvorsprung auftat. Rechts vom Felsen bot sich die Möglichkeit, in einer Gerölllawine aufzuklettern, doch wollte ich in meinem Zustand und mit geringem Klettergeschick nichts riskieren. Ich setzte mich in den Schatten des Felsens, schaute ins Land, holte eine Wasserflasche hervor, trank, nahm einen Happen zu mir, spürte allmählich die Erschöpfung in den Gliedern und erkannte ohne größere Enttäuschung, dass mein Ziel nicht mehr zu erreichen war. Karge Landschaft mit vereinzelten Häusern und sonnebeschienenen Gipfeln bildeten die Aussicht und regten zu weitschweifenden, sich über all das erhebenden Gedanken an.
In meinen starrgewordenen Blick läuft Teresa, die mich längst wahrgenommen hat und nach einem mir zunächst unklar gebliebenen Zuwinken aus der Ferne an den Tisch kommt. Ich stehe auf, gebe ihr die Hand, entschuldige das späte Bemerken mit meinem Träumen. Vollends die Fassung wiedergewonnen frage ich, ob sie sich nicht setzen möchte, locke mit einem Kaffee oder Tee.
Das »Nein« erklingt in ihrem harten, Geschäftigkeit ausstrahlenden Ton, ebenso das kurz darauf folgende »Keine Zeit.« Ich lächle enttäuscht, erwidere, so kenne ich sie, als mußeloses Wesen, stets zwischen einem von und nach, nie länger in Ruhe an einem Ort. Wir stehen uns einen Moment lang schweigend gegenüber. »Schade«, bringe ich hervor, »es ist mein letzter Tag in der Stadt«, und weiß, dass mir zu ihrer Betrachtung kaum Zeit bleibt, da sie sich auf keinen Floskeltausch einlassen wird. Teresa steht und schaut mit ihren dunklen, fernen Augen in meine, leitet mit »Also dann« die Verabschiedung ein, wünscht eine gute Heimreise, ich solle den Subjuntivo nicht vergessen, verzieht den Mund, was ein Lächeln sein könnte, dreht sich um, geht in ihrem ruppigen Stil mit der heute so schmalen, sonst häufig buch- und unterlagenbepackten Tasche an der Seite in Richtung Museum und entschwindet meinem sie länger begleiten wollenden Blick.
Ihre Gestalt nimmt mir die Sonne und ersetzt sie. Schwarze Hose, weißes Hemd und ebenfalls schwarzes, für die Temperatur überflüssiges Jackett, alles in allem typisch schlicht und dezent, dabei elegant, so gekleidet steht Teresa in leicht steifer Haltung unerwarteter, doch erwünschter Weise immer noch vor mir. Die dunklen Haare, schulterlang und glatt, die helle, mit Sommersprossen versetzte Haut und die braunen Augen mögen nichts Ungewöhnliches für eine Spanierin sein, ihre Züge jedoch sind markant und zeugen von Charakter. Die Erinnerung hat mir ihr Äußeres in den vergangenen Wochen nicht verschönert, sie ist schön und in ihrem Angesicht verblasst jedes Erinnerungsbild.
In der auf meine Einladung hin lang andauernden Wortlosigkeit erwog sie wohl die Auswirkungen einer nicht vorgesehenen Pause auf den sorgsam geplanten Tagesablauf. »Einen kleinen Moment«, sagte sie eben, begann darauf in ihrer Tasche zu kramen und, anscheinend nicht fündig geworden, schaut sie nun zu mir. Ich weise auf den freien Hocker an meinem Tisch und sie rückt ihn sich zurecht. Ein Kaffee, aber auf eigene Rechnung, passe ganz gut dazwischen. Warum solle sie nicht noch etwas Aufmunterndes zu sich nehmen, bevor sie, zurück an den Schreibtisch, lang schon Vorgenommenes endlich beginne, um sich bis spät in die Nacht darin zu vertiefen. Sie komme gerade von ihrer Zeitungsredaktion, in der letzte Rücksprache über einen demnächst erscheinendenen, größeren Artikel von ihr zu halten war, und könne sich eine kleine Pause leisten.
Teresa befreit sich vom Jackett, sieht mein Getränk und fragt mit verwundertem Blick nach dessen Namen. Ich gerate sofort ins Schwafeln, erkläre, dass es sich um Yogi-Tee handele mit Honig, Kardamom, Nelken, Ingwer, schwarzem Pfeffer sowie Zimt, mir zwar Zimt keineswegs, ja eigentlich abgesehen von Honig und Pfeffer keine der Zutaten zusage, es mich aber dennoch gelockt habe zu probieren und es sich nun, wie wohl zu erwarten, als kaum genießbares, exotisches Gesöff erweise, das Überwindung verlange.
Teresa schaut ein wenig ungläubig und fragt, warum ich es denn überhaupt, wenn mir das alles schon bekannt gewesen sei, bestellt habe.
»Ab und an reizt es mich, die eigenen Grenzen zu verlassen, um dasjenige, was jenseits der Grenzen liegt, zumindest ansatzweise zu erfahren. Zwar möchte ich nicht hinter meinen Grenzen leben, aber wissen, was sich dort befindet, kurz, die Neugier auf den Geschmack war es wohl, zudem auch die Lust am Widersprechenden, die mich dazu gebracht hat.«
»Nun gut, aber mit Kenntnis des Geschmacks aller Bestandteile war doch letztlich nichts Neues davon zu erwarten, oder?«
»Die Mischung hätte etwas Neues und eventuell sogar Schmackhaftes ergeben können und mir damit etwas verborgen haben.«
»Das mag bei solcher Ausgangslage in einem von hundert Fällen glücken.«
»Wahrscheinlich ist das so.«
Teresa schüttelt amüsiert den Kopf und greift zur Karte.
»Ich habe mir vor Jahren, obwohl ich weder Whisky noch Kaffee trinke, einen irischen Kaffee in der Annahme bestellt, dass die Mischung etwas Passables ergibt.«
»Und?«
»Er schmeckte nach dem Geruch von vollen Aschenbechern, also grauenhaft. Träfe deine Prognose zu, wäre die Frage, ob sich wegen des einen Treffers neunundneunzig Fehlversuche lohnen.«
»Du könntest cleverer probieren.«
»Wie das?«
»Indem du das wählst, was zugleich vielversprechend und unbekannt ist.«
»Je vielversprechender etwas ist, desto bekannter ist es doch, und mich reizt gerade das Unbekannte.«
»Dann hättest du etwas ohne jede Vorkenntnis wählen sollen.«
»Das stimmt zwar, gestaltet sich aber in dieser Tetería trotz des breiten Angebotes gar nicht so einfach. Ich war schon oft hier und habe vieles probiert. Yogi-Tee stand noch als eine für mich schwer vorstellbare Mischung aus, die gerade wegen ihrer Hoffnungslosigkeit Interesse erweckte.«
»Dann lass ihn dir schmecken.«
Ein kräftiger Zug aus der Tasse bringt wiederum einen unangenehmen Sinnenschauer. »Das Positive an solchen Grausamkeiten ist, dass ich mich nach durchstandener Qual um so genüsslicher dem liebgewordenen Altbekannten widme.«
»Hast du dafür solches Malträtieren nötig?«
»Ab und an schon.«
»Ich nicht.«
»Du probierst nie?«
»Selten. Ich kenne zuviel, was mir zusagt, und habe kaum Zeit, dieses zu genießen, so dass ich, wenn schon etwas Neues, keinesfalls das von vornherein Unattraktivste wählte.«
Teresa überfliegt die Karte und bestellt sich einen Café con leche. Das Gespräch führt rasch, wie könnte es anders sein, auf die Sprachschule als unser Verbindendes. Ich fasse meine Eindrücke zusammen, spreche von Qualität und Zufriedenheit, sage, ohne zu schmeicheln, dass mir ihr Unterricht ausgezeichnet gefallen habe, insbesondere seine Sachlichkeit mit dem Verzicht auf das übliche Geplänkel über Lust oder vielmehr Unlust am Lernen, völlig unwichtige Leute und Ereignisse oder gar das Wetter. »Du wolltest über deine Themen reden und nichts weiter. Einigen blieb die direkte und zierlose Art fremd, du warst ihnen zu ernst. Mir hat sie gefallen.«
»Du hast nichts auszusetzen?«
»Keine Kritik, nur zwei Bemerkungen«, antworte ich nach kurzer Überlegung.
»Und was hast du zu bemerken?«
»Ich fand die Kürze bedauernswert, lediglich zwei Wochen Konversation und zwei Literatur, es waren vierzig, zu schnell verflossenen Stunden. Ich hätte sicher noch sehr viel mehr lernen können.«
»Es bleibt immer zu wenig Zeit.«
»Dein Wissen über spanische Literatur hat mich beeindruckt.«
»Für den Laien mag das so scheinen, aber die Lücken sind größer als das Wissen drumherum. Die zweite Bemerkung?«
»Nun ja, wie soll ich sagen, ein wenig störte mich deine Unnahbarkeit außerhalb des Unterrichtes. Ein einziges Mal diskutierten wir zwei ein paar Minuten über die Stunde hinaus. Ansonsten, wenn du vorzeitig in die Klasse kamst, warst du mit Unterlagen beschäftigt, in der Pause hast du telephoniert oder etwas im Gebäude erledigt und nach den zwei Stunden war dein Material schnell in der Tasche verstaut und du gleich darauf verschwunden. Ich spreche damit sicher nicht für die anderen Teilnehmer, aber ich hätte mich gern jenseits des schulischen Rahmens mit dir unterhalten, sachlich und privat und ohne Verfall in Geplapper.«
Teresa entgegnet, dass sie von ihrer der vielen Arbeit geschuldeten Unnahbarkeit wisse und es ihr auch manchmal um ein nicht zustandegekommenes Gespräch leid tue. Mehr als einmal habe sie sich schon geärgert. Später, denke sie häufig, bleibe dafür Zeit, am Ende der Woche, und wenn nicht, bestimmt die nächste, doch dann komme sie nicht dazu oder vergesse das Ansinnen. Ich wisse ja um die Fordernisse der Arbeit und könne mir denken, dass es keine Ausrede, kein Unwille sei, die Schule nun einmal einiges abverlange und ihre eigentliche Tätigkeit und Passion, die Literaturkritik, ein Vielfaches davon.
Auf die mit schelmischen Blick gestellte Frage, ob ich noch in Kontakt mit jemandem von unserem Kurs stehe, verneine ich, sage, dass es sich, wie ihr nicht entgangen sein dürfte, kaum gelohnt habe, über die Schüler, geschweige denn mit ihnen zu sprechen. Sie seien allesamt erschreckend uninspirierend gewesen. Vor allem die beiden deutschen Studentinnen hätten nicht viel mehr im Sinn gehabt als das Wetter und die Einkäufe. Eigentlich treffe man in jeder Gruppe auf einen gesprächswerten Menschen, unser Kurs allerdings sei mein persönlicher Tiefpunkt gewesen. »Schade, dass du Fabian, einem Koch aus der Schweiz, nicht kennengelernt hast. Er war für mich in der ganzen Zeit der einzige interessante Mitstreiter. Unmittelbar, bevor wir dich als Lehrerin bekamen, ist er mit seinem Boot, mit dem er von der Schweiz aus durch Frankreich bis Málaga segelte, Richtung Barcelona aufgebrochen.«
»Von der Schweiz durch Frankreich nach Málaga gesegelt?«, fragt Teresa ungläubig.
»Ja. Ich hätte das auch nicht für möglich gehalten, aber es gibt wohl viele Kanäle, und er hat sich die Zeit genommen.«
»Beachtenswert.«
»Er hatte stets etwas zu erzählen, über die Eigenheiten seiner Landsleute, die kräftezehrenden Zustände in der Küche, einen Arbeitsaufenthalt in der Karibik, insbesondere freilich über das Segeln und sein Boot. Die Themen gingen uns nie aus. Er war zu fast allem mit einer auf Leben und Reflexionskraft gegründeten Meinung ausgestattet. Die über dich hätte ich gern gehört. Mit den anderen erübrigte sich jedes Gespräch über deine Person. Du hast sie nur irritiert.«
»Irritiert?«
»Ja.«
»Durch was?«
»Beispielweise durch die Äußerung, dass deine Heirat ein Fehler gewesen sei, du keinen Mann, nur Bücher brauchest, früher zwar gedacht habest, beides sei verbindbar, aber der Mann sich letztlich als zuviel im Leben herausgestellt habe. Die Äußerung hat ihnen einen Schlag versetzt.«
»Du übertreibst.«
»Nein, ich glaube, das trifft es ganz gut. Du warst ihnen insgesamt fremd. Sie fanden dich kühl, um nicht zu sagen, kalt. Du warst ihnen zu wenig feminin.«
»Und dir?«
»Ich sehe das eher gegenteilig. Ich mag Härte, wenn sich etwas Weiches darin verbirgt.«
»Wovon du bei mir ausgehst?«
»Was ich für ausgemacht halte.«
»Die Äußerung hat dich nicht irritiert?«
»Ich habe über sie nachgedacht, mich nach ihrem Hintergrund gefragt, nach der zugrundeliegenden Geschichte, deinem Leben gewissermaßen. Ich konnte dich nie fragen.«
»Wieso?«
»Mir fehlte die traute Atmosphäre in der Schule, außerdem bin ich selten so direkt.«
»Und jetzt umgibt sie dich, diese Atmosphäre?«
»Sie baut sich langsam auf.«
»Welchen Hintergrund vermutest du?«
»Den falschen Mann.«
Sie antwortet mit verschmitztem Gesicht: »Das zwar auch, aber es war nicht das Entscheidende. Hast du weitere Vermutungen?«
»Ausdenkbar ist sicher noch einiges, aber ich glaube nicht, dass ich es errate.«
»Das glaube ich auch«, sagt sie lachend, »es war ein Geruch zuviel.«
Ich schaue sie mit Unverständnis ausdrückender Miene an.
»Meine kleine Wohnung steht voller Bücher, im Flur, in meinem Arbeitszimmer, selbst im Schlafzimmer. Die älteren Ausgaben verströmen einen Duft, wie du ihn vielleicht aus Antiquariaten kennst. Ich komme nach Hause, öffne die Tür, rieche diesen Duft und bin zu Hause. Schließe ich die Tür, liegt die Welt hinter mir, die ganze Welt. Mit meinem Mann zusammen hatte ich zwar eine größere Wohnung, aber es war stets etwas zuviel darin, meine Bücher oder er. Ich konnte mich auf keines von beiden konzentrieren. Las ich ein Buch, roch ich ihn und an ihm roch ich die Bücher. Ich habe mich für einen Geruch entschieden.«
»Für den richtigen?«
»Ohne Zweifel.«
»Du bräuchtest einen geruchlosen Mann.«
»Einen farblosen zudem, einen nicht vorhandenen. Nein, ich brauche wirklich keinen.«
Ich würde ihr glauben, denke ich, spräche es nicht gegen das Bild, welches ich mir von ihr bewahren möchte.
»Und du?«, fragt sie.
»Was ist mit mir?«
»Du hast weder Frau noch Freundin?«
»Auf was tippst du?«
»Dass du keine hast«, sagt sie mit derart überraschender Bestimmtheit, dass ich verwundert erwidere: »Habe ich etwas darüber gesagt in der Schule? Ich erinnere mich nicht.«
»Es ist nicht besonders schwer herauszufinden. Männer sind Schwätzer, selbst dann, wenn sie nichts sagen. Gleichwohl, du bist relativ ruhig.«
»Schön.«
»Und?«
»Ich habe weder Frau noch Freundin. Du hast Recht.«
»Warum?«
»Kein Platz.«
»Kein Platz?«
»Die Modelle und Skizzen fordern die ganze Wohnung, egal wie groß sie sein mag. Außerdem harmoniert der Geruch des Leims und der Farben nicht mit dem Parfum einer Frau, die Kreativität wäre dahin«, sage ich und schmunzele dabei.

Der Yogi-Tee ist ausgetrunken. Nach der exotischen Strapaze brauchen meine Sinne Erholung und ich bestelle mir einen Trinkjoghurt mit Minze.
»Ein weiterer Ausbruch hinter die Grenzen?«, fragt Teresa.
»Nein. Ein Reinfall am Tag genügt mir.« Die Bedienung bringt ihn rasch, ich nehme einen großen Schluck, er erfrischt und tut gut. »Obwohl das deutsche Wort für Joghurt dem spanischen stark ähnelt, bekommt man dort selten so einen köstlichen zu trinken.«, sage ich den Geschmack auf der Zunge.
»Die Wörter allein garantieren für nichts.«
»Das wäre wahrscheinlich zu simpel.«
»Die Wörter schwimmen gewissermaßen im Leben und das Leben fließt durch sie vorwärts. Wechselst du alle Wörter in einem Fluss aus, verändert sich zwar sein Fließen, in seinem Bett aber ist er fest gestaltet und träge. Es sind andere Kräfte, die dieses verändern.«
»Ein schönes Bild.«
»Es ist nicht von mir. Ich habe es in einem Aphorismenband gelesen. Wie kamst du eigentlich zum Spanischen?«
»Ich wollte eine mediterrane Sprache beherrschen.«
»Warum Spanisch?«
»Ich habe damals nicht lange darüber nachgedacht, es trieb mich einfach aus Deutschland in den Süden. Der Gedanke an eine spätere, leider noch nicht verwirklichte Lateinamerikareise war wohl der ausschlaggebende Grund für Spanien, ansonsten hätte es auch Italien oder Griechenland werden können.«
»Hast du in Deutschland mit dem Lernen begonnen?«
»Nein. Das erste Mal bin ich nach dem Abitur ganz ohne Vorkenntnisse vier Wochen in Salamanca auf einer Sprachschule gewesen.«
»Salamanca ist eine Perle.«
»Die Stadt war mit ihrem Flair genau das Richtige für meine damaligen Bedürfnisse, die Schüler waren ausgesprochen lebenslustig und die Lehrer exzellent. Ich eignete mir erstaunlich viel Spanisch an, wobei mir freilich die Lateinkenntnisse von der Oberschule halfen. Der Unterricht und das Leben außerhalb der Schule mit den beinahe täglichen Feiern standen im optimalen Verhältnis. Es waren frohe, unbeschwerte Wochen, vielleicht die unbeschwertesten meines Lebens.«
»Wie ging es dann weiter mit dem Spanischen?«
»Den entscheidenden Schub bekam ich durch ein Auslandssemester mit sechs Wochen Intensivkurs als Vorbereitung. Am Ende des Aufenthaltes besaß ich einen respektablen Wortschatz und solide Grammatikkenntnisse. In Deutschland allerdings folgte ein rapides Vergessen. Versuchte ich einen eben gehörten oder gedachten Satz zu übersetzen, fehlten mir zuweilen ganz alltägliche Wörter. Ich widmete der Sprachpflege kaum Zeit, die letzten Semester des Studiums, das fordernde Examen, die Bewerbung und die erste Arbeit sorgten permanent für Druck. Meine Spanischunterlagen verstaubten im Regal und eine Sprachpartnerschaft blieb lediglich Vorhaben. Erst mit drohendem Ende der Firma kam mir der Gedanke, die Kenntnisse und Fertigkeiten aufzufrischen und zu erweitern. Ich spürte wieder den Drang in den Süden, nicht zuletzt, um mich von meiner Müdigkeit aufzumuntern. Nach der Entlassung nutzte ich die Gelegenheit.«
»Eine gute Entscheidung, oder?«
»Das Beste, was ich tun konnte. Auf den Kurs hier bereitete ich mich drei Wochen intensiv vor. Meine ganzen Unterlagen ging ich durch, las zudem spanische Zeitungen, besorgte mir Hörbücher und Filme und sprach so oft wie möglich mit einer Studentin aus Ecuador.«
»Dir gefällt die Sprache?«
»Ja.«
»Irgendetwas im besonderen Maße?«
»Am Anfang begeisterte mich, dass man so rasch zu einfacher Konversation fähig war. Mit tieferem Eindringen erstaunte ich über den Reichtum an Wörtern und der Konjugation. Auch den Klang des Spanischen habe ich liebgewonnen. In Cafés oder Restaurants lausche ich gern Unterhaltungen, meist ohne Interesse am Inhalt. Dennoch vermag ich nur eine begrenzte Zeitspanne, ohne die deutsche Sprache zu leben. Das erste Mal bemerkte ich das während meines Auslandssemesters, in dem ich mich zuerst ganz bewusst entgegen den meisten anderen Austauschstudenten von meinen Landsleuten entfernt hielt, um möglichst viel zu lernen. Nach zwei Monaten fast völliger Abstinenz vom Deutschen entstand ein Bedürfnis danach und wurde von Tag zu Tag stärker. Ähnlich erging es mir bei diesem Aufenthalt. Mittlerweile kaufe ich mir deswegen jede Woche deutsche Presse.«
»Liest du auch Spanischsprachiges?«
»Ich blättere fast täglich in den Zeitungen.«
»Und Literatur, einen Roman oder eine Erzählung?«
»Die in unserem Kurs behandelte Literatur sprach mich nicht so sehr an, aber José, mein erster Konversationslehrer an der Schule hier in Málaga, hat mir Borges empfohlen und ich habe mir daraufhin ein Taschenbuch mit Erzählungen gekauft und ›El inmortal‹ gelesen.«
»›El inmortal‹, meine Lektüre ist zwar lange her, aber ich erinnere mich, die komplexe Geschichte hat zugleich etwas Faszinierendes und Bedrückendes.«
»Ich glaube kaum, alle Ideen und Anspielungen auf den wenigen Seiten verstanden zu haben, aber faszinierend und bedrückend trifft die Atmosphäre ganz gut. Unsterbliche, die vor den Toren ihrer verlassenen Stadt in karger Wüstenlandschaft weitab der Zivili- sation dahin vegetieren, schmutziges Wasser trinken und sich von Schlangen ernähren. Im Verzicht, das Leben in seinen zahllos schimmernden Facetten wahrzunehmen, liegen sie ohne jeden Aufbegehr im Sand und in ihren Höhlen, reden nicht miteinander, befinden sich alleinig in der Spekulation, wobei mir unklar blieb, über was man fast ohne sinnlichen Einfluss jahrelang nachdenken soll. Ihre selbst gewählte Aussichtslosigkeit, der zum Erlöschen gekommene Wille hat mich erschüttert. Sich von der pulsierenden Welt abkehren, die Sinne absterben lassen und mit Vegetieren begnügen, das Einst und das Morgen versunken, das ewig gleiche Jetzt als bestimmungsloses Dahin – ich empfand diese Wahl zunächst als vollkommen unverständlich, bis mir die Gefühlslage nach einem äußerst anstrengenden Arbeitstag in den Sinn kam. Man schleppt sich nach Hause, nimmt noch einen Happen zu sich, ist müde, legt sich hin, spürt seine Knochen, kreist mit unsortierten Gedanken kurz vor dem Schlaf, will nichts mehr außer Liegen und Dämmern, ist weder glücklich noch unglücklich, der Wille ist erloschen. Stellt man sich dieses Ausgebranntsein als Dauerzustand vor, mag der Rückzug begreiflich werden, doch ist mir ein derartiges Leben, ein Vegetieren über Jahre ohne Hoffnung auf ein Aufblühen ein Grauen, ich brauche Aussicht. Kann man überall gewesen sein, alles erlebt haben, dass man in solch inhaltsloses Dahin versinkt oder bleibt nicht immer ein unausgeloteter Zipfel, ein noch unbekannter menschlicher Zug, eine Frau, ein Geruch, welcher die Ausfahrt lohnt? Ich vermag es mir nicht vorzustellen, aber ich bin auch nicht unsterblich.«
Teresa rückt meine Ausführungen etwas zurecht, stellt einige klärende, literarische Bezüge her, fragt, was ich von »Deutsches Requiem« halte, und zeigt sich von meiner Antwort verwundert, keine weitere Erzählung von Borges zu kennen. Warum ich es bei einer belassen, wenn diese mir doch gefallen habe, will sie wissen, und ich sage, dass das Verlangen nur ein leiser Kitzel gewesen sei, eine angenehm reizende Neugier. Zwar habe mich das Buch die letzten Wochen in meiner kleinen Reisetasche begleitet, doch habe ich es lediglich einige Male kurz in die Hand genommen, ohne mich in eine Erzählung zu vertiefen. Wichtig sei nur gewesen, von seinem Beimirsein zu wissen, jederzeit mit der Möglichkeit, eine weitere zu lesen. Teresa zeigt kein Verständnis dafür. Man müsse doch seiner kitzelnden Neugier Abhilfe schaffen. Auf meine Entgegnung, dass man doch auch das Kitzeln mögen könne, will sie wissen, ob ich mich in anderen Beziehungen auch so passiv verhalte.
»Mag sein.«
»Gegenüber Frauen?«
»Gegenüber Frauen«, wiederhole ich lachend, »es wäre nicht untypisch.«
»Wirklich?«
»Ich bin offensiver geworden. Früher allerdings, wenn ich auf eine herausragende Frau traf, mochte sie mich zwar faszinieren, meine Gedanken binden und ausfüllen, dennoch habe ich es ihr nur selten gezeigt und meist nach außen still weitergelebt. Teilweise nährte sie monatelang meine Sehnsucht, und erst eine andere einnehmende Gestalt ließ sie verblassen. Ohne das Zugehen der Frauen auf mich hätte ich wohl völlig vereinsamt gelebt. Hätten sie mich nicht geküsst, säße ich heute wohl noch jungfräulich vor dir. Nicht, dass die Anziehung fehlte, aber ich gab nur den zweiten Kuss.«
»Das meinst du doch nicht ernst?«
»Ein bisschen schon.«
»Schüchtern?«
»Ja, so eine Art von Schüchternheit.«
Sie schaut ein wenig ungläubig, sagt aber nichts.
»Ich habe mich geändert in den letzten Jahren, allerdings noch nicht ausreichend. Ohne dein mir Zufallen am heutigen Tage wären wir uns wahrscheinlich nie wieder begegnet und ich säße jetzt hier ganz allein, weiter im Träumen begriffen. Gleichwohl in der Schule die Möglichkeit bestand, dich auf eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein einzuladen, habe ich die Einladung nur mehrfach gedacht, mich aber nicht dazu aufgerafft, sie auszusprechen.«
»Zehnmal denken, ohne einmal zu handeln, ändert weniger, als einmal zu handeln, ohne zu denken. Ich hätte mich gefreut und sicher für eine halbe oder ganze Stunde Zeit gefunden.«
Mir fällt keine entsprechende Erwiderung ein und wir geraten ins Schweigen. Sie schaut sich zum ersten Mal seit ihrem Eintreffen um, kurz und ohne innezuhalten, dann zuckt sie zusammen, sieht auf ihre Uhr, erschrickt, sagt, sie habe die Zeit völlig vergessen, es sei schon sehr spät und noch so viel wäre zu erledigen, die Bücher harrten des kritischen Lesens und sie müsse daher nach Hause an den Schreibtisch. Wir geben der Bedienung ein Zeichen und reden im Warten auf die Rechnung über ihre Arbeit. Die Frage nach meiner Zukunft in Deutschland wimmele ich mit dem Satz ab, dass ich mich heute noch ganz in Spanien fühle und erst ab morgen wieder daran denken werde. Die Bedienung kommt, wir bezahlen, getrennt.
Ich habe gehört und verstanden, dass sie gehen will, in ihrer Sichtweise sogar muss, doch ist es nicht bei mir angekommen. Selbst im Abschied verhalte ich mich äußerlich zwar entsprechend, fühle aber kein Abscheiden, auch nicht, als wir beginnen, in entgegengesetzte Richtungen auseinanderzulaufen, sie zur Plaza de la Merced und ich Richtung Meer. Ich achte nicht auf die Straßen und Passanten, höre keine Autos, keine Mofas, kein Absatztrippeln und kein Gerede, ich habe den Blick gen Himmel und bin dem Leben hier enthoben, ich wandle, schwebe durch und über die Straßen zum Meer, trete in den Sand, laufe ans Ufer, einige Schritte und dann falle ich in den warmen Sand, höre das Meer rauschen, das Rauschen wird zu ihrem Atem und ihre weichen, warmen Lippen decken mich in den Schlaf.

vom Tulpe-Verlag zur Verfügung gestellt

Der Text ist entweder gemeinfrei oder wurde vom Autor/Verlag zur Verfügung gestellt.Bei rechtlichen Bedenken melden Sie sich bitte beim Team von Kritikatur.


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Teresa
Teresa
(Gernod Siering)
Tulpe Verlag, 2007, 119 S.
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