Eine Würdigung des Lyrikanthologie–Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch
„Die ganze Landschaft ist ein Manuskript“ (John Montague)

Die Stimmenvielfalt in »Versnetze_eins« bis »Versnetze_drei« erscheint wichtiger war als die Auslese. Walter Benjamin unterschied drei Arten von Anthologien: jene, die einen bedeutenden Dichter zum Herausgeber haben, dessen Lyrikauswahl „eingestandenermaßen oder nicht normativen Charakter“ hat und deshalb selbst als „Dokument der hohen Literatur“ gelten darf, dann jene, deren Herausgeber als Person zurücktritt und sich rein informative Ziele gesetzt hat, zuletzt die „unerfreulichste Gattung“, die „als müßiges Spiel eines Unberufenen ein undeutliches Ineinander eklektischer und informatorischer Gesichtspunkte“ darstellt. Alles stimmt beim Herausgeber und Lyriker Axel Kutsch, weil alles bei ihm Dichtung ist, mit Dichtung zu tun hat. In seiner Lyrik hören die Sachverhalte auf zu sein und fangen an zu bedeuten. Seine Lyrik, zuletzt veröffentlicht in »Stille Nacht nur bis acht«, handelt nicht davon, was passiert, sondern wie Leser es erleben. Von 2008 bis 2010 erschienen die vieldiskutierten Anthologien »Versnetze_eins« bis »Versnetze_drei« Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart«.

Als Herausgeber von Lyrik–Anthologien hat Axel Kutsch einen ganz anderen Begriff davon, was diese Gattung leisten muß. Die von ihm herausgegebenen Bücher fügen sich ineinander mit eiszeitlicher, in geologischen Epochen denkender Zwangsläufig¬keit, als eine fortschreitende Bewegung. Er denkt in Werkzusammenhängen, was ihn zu einer Ausnahmeerscheinung macht. Zuletzt erschien »Versnetze zwei«, eine Anthologie, die nicht nach dem Alter, sondern nach der Postleitzahl sortiert ist. Zu entdecken ist eine Lyriklandschaft, die sich sowohl den Metropolen, als auch dem Hinterland widmet. Über seine Arbeit als Herausgeber von Lyrik–Anthologien sagt er ergänzend zum Projekt »Kollegengespräche«*:

„Der Verlag schreibt gezielt Autorinnen und Autoren an. Von den Einsendungen ist zwar nicht alles zu verwenden, aber es bleiben immer genug annehmbare bis hervorragende neue Gedichte auch weniger bekannter Verfasser übrig, mit denen man niveauvolle Anthologien füllen kann. Ich lege Wert darauf, nicht nur etablierten
Lyrikern ein Forum für Veröffentlichungen zu bieten, sondern auch solchen, die sich bisher erst in ihren regionalen Szenen einen Namen gemacht haben.“

Gedichte sind offene Gebilde

Als Herausgeber ist Axel Kutsch ein Entdecker. Zwischen Verbindlichkeit und Freiheit, zwischen Hierarchie und Innigkeit, Ordnung und Chaos findet er auch die Na¬deln im Heuhaufen. Er hat bereits frühzeitig erkannt, daß die aktuelle Lyrik auf ei¬nem viel höheren Niveau angesiedelt ist als die sogenannte Popliteratur. Die Postmoderne endete jedoch mit der Massennutzung des Internets, kaum niemand nimmt Notiz von ihrem Sterben, weil das Leben immer mehr von einer immer noch schneller werdenden, ja, wahnwitzigen Schnelligkeit geprägt zu sein scheint.

Die Literaturtheorie wird zusehends von Literaturmarketing abgelöst, kompetente Buchkritiken werden durch geschmäcklerische Literaturtipps ersetzt. Die seriöse Buchauswahl verschwindet, stattdessen wird alles zur Geschmacksfrage degradiert. Der Markt beeinflusst die Wahl, bestimmt die Vorlieben und etabliert Werte. Selbst wenn Besprechungen nett gemeint sind, steht darin immer etwas, das erkennen läßt, daß nicht begriffen wurde, was die Autoren bei der Schreibarbeit tatsächlich beschäftigt hat. In den seltensten Fällen wird die ursprüngliche Aufgabe des Kritikers noch befolgt, über Literatur zu schreiben, bevor man sie beurteilt.

Kritischer Regionalismus

Im 20. Jahrhundert versuchten die Autoren, sämtliche Regionen des Landes ausschöpfend zu beschreiben, nach dem 2. Weltkrieg folgte die modernistische Literatur, welche die plurale Identität der alten BRD entdeckte und sich andererseits darum bemühte, die Weimarer Traditionen wiederaufzunehmen. Die Lyriker der blank generation sind so lebendig wie vielstimmig ist, sie schreiben keine Befindlichkeitstexte, leisten dafür aber sorgfältige Spracharbeit und schreiben poetisch souverän, welterfahren und vor allem eigenwillig. Die literarische Strömung des Regionalismus wirkt der Globalisierung entgegen, weil sie eine starke Bindung zu einer Örtlichkeit und einen Bezug zur Geschichte entwickeln. Die Antwort der Lyriker auf die Globalisierung liegt in der Anthologie »Die inneren Fernen« in der Vertiefung der eigenen historischen Wurzeln.

Der Literaturbetrieb gleicht einem Adler, der mit gebrochenen Füßen in die Lüfte steigt, die ihm jedwede Landung verwehren. Heutzutage scheint Literatur der Inbegriff des Fragmentarismus, der unsere Zeit ansteckt, dadurch charakterisiert und die typisch fin–de–siècle–belastete Verwirrung und Fassungslosigkeit der Methoden bzw. existentiellen Werkzeuge zum Ausdruck bringt. Diese Autoren wagen, jeder auf seine Art und Weise, eine Berufung der Methode einzulegen, indem sie eine Berufung der Rhetorik heraufbeschwören. Die alten Fragen der Literatur bleiben erhalten, wie etwa die nach dem Geschlechterverhältnis oder dem Rest Unerklärlichem, das sich der menschlichen Erkenntnis entzieht.

Deshalb sollte sich die neue Literatur nicht frontal gegen die Religionen stellen. Aber sie muß die sogar bei Atheisten bislang unzureichend ausgebildete Anschauung stärken, daß Moral und Ethik keineswegs nur über religiöse Überzeugungen funktionsfähig werden. Es geht um eine Erweiterung des literarischen Feldes. Seit einiger Zeit erlebt die deutschsprachige Lyrik eine kleine Renaissance. Das hat einerseits mit dem Wagemut der Kleinverlage) zu tun; es hängt aber auch zusammen mit der Wiederentdeckung lyrischer Formen durch jüngere Autorinnen und Autoren. Es fällt auf, daß manche lyrische Innovationen der letzten Jahre aus dem Hinterland kommen, ob aus der Edition YE Sistig in der Eifel, der Landpresse in Weilerswist, der Edition Das Labor aus Bad Mülheim oder der Silver Horse Edition aus Marklkofen, ob Peripherie Zentrum oder Zentrum Peripherie ist, entscheiden die interessierten Leserinnen und Leser mit jedem neuen Gedichtband neu.

Das Gedicht als besondere Form des Denkens

Mein Problem beginnt damit, daß sich die gebotene Vielfalt in »Versnetze_eins« bis »Versnetze_drei« kaum würdigen läßt. Damit stehe ich nicht allein da, kompetente Buchkritiken werden durch geschmäcklerische Literaturtipps ersetzt. Gedichte, die auf ihre ästhetische Autonomie pochen und sich implizit als Gegenwelt zur geschichtlichen begreifen, setzt er dabei dem Generalverdacht aus, im „luftleeren Raum“ zu schweben, ja sogar einer „Wertverwahrlosung“ Vorschub zu leisten. Die seriöse Buchauswahl verschwindet, stattdessen wird alles zur Geschmacksfrage degradiert. Der Markt beeinflußt die Wahl, bestimmt die Vorlieben und etabliert Werte. Selbst wenn Besprechungen nett gemeint sind, steht darin immer etwas, das erkennen läßt, daß nicht begriffen wurde, was die Autoren bei der Schreibarbeit tatsächlich beschäftigt hat. In den seltensten Fällen wird die ursprüngliche Aufgabe des Kritikers noch befolgt, über Literatur zu schreiben, bevor man sie beurteilt. Die Einzigartigkeit von Lyrik liegt, abgesehen von ihrer bestechenden Schönheit, in der Unkenntnis einer prosaischen Realität, die das Herzstück so vieler Bücher der Epoche ausmacht.

Baden

Das beste Beispiel für kritischen Regionalismus ist der Badenser Matthias Kehle. Dieser Lyriker hat eine Reife erreicht, daß er locker in seinen »Fundus« greifen kann. Kehle versenkt sich an oft ungewöhnlichen Erinnerungsorten tief ein in die Psyche des Badischen und entwirft dabei ganz nebenbei eine Kulturgeschichte der versunkenen BRD. Anwesend ist das Abwesende bei Kehle in der Bipolarität der unentzifferten Zeichen. Fesselnde Fiktion lebt vom Spezifischen, er kompiliert klug Zitate aus Forschungs– und Populärliteratur, Reportagen und historische Anekdoten. Als Flaneur entdeckt er auf neuen Wegen das Innere von Karlsruhe und Umgebung. Mit zergliederndem Blick beobachtet er Jogger und Fahrradfahrer. Daß ihm dabei jedes poetische Mittel recht ist und er selbstredend auch den Kalauer nicht verschmäht, demonstriert die Demut und völlige Dünkellosigkeit dieses Lyrikers. Für Proust bedeutet Erinnerung die Suche nach verborgenen Augenblicken des Glücks, für Kehle sind Erinnerungen gleichsam Sammellinsen für lyrische Stoffe. Dieser Lyriker ist ein Fraktalkünstler, das große Ganze setzt er aus eigenen Miniaturen zusammen und spiegelt ein lyrisches Ich in die Welt zurück.

Leselampen

Die Leser von Lyrik haben nicht den Eindruck einer Unvollständigkeit von Anthologien und einzelnen Büchern, sondern den der Unabschließbarkeit dieser Literaturgattung, die einem Leben und vor allem einem damit engvermählten Werk angemessen ist, die gleichermaßen durch ungewöhnliche Komplexität wie durch untergründige Verbindungen gekennzeichnet sind. Nachzulesen in den hervorragend ediertem Bänden der „Versnetze_. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart“. Jedes Jahr wählt Kutsch, die repräsentativsten und die singulärsten Gedichte aus. So entsteht ein weit gespannter Überblick zur aktuellen Lyrik, und zugleich ergeben sich neue Perspektiven von experimenteller Poesie über Naturlyrik bis zur jungen Dichtung. Erinnerungsbilder tauchen in diesen Anthologien immer wieder auf, Bilder, in denen sich ein Ich seiner Wahrnehmung zu vergewissern sucht. Sie stehen neben leichten, beinahe heiteren Gedichten. Berührend sind die Liebesgedichte, und auch sie sind geprägt von mäandernden, schwingenden Suchbewegungen. Bisweilen werden sie einer strengen Form unterworfen, die sie mit geschickten Brechungen unterlaufen. Es spricht sich schnell in Deutschland herum, wenn irgendwo seriöse Anthologien ediert werden, also Sammelbände, bei denen die Autorinnen und Autoren sich nicht finanziell zu beteiligen brauchen und ebenso wenig zu Mindestabnahmen genötigt werden. Und dann hagelt es schon bald Gedichte. Manche Einsender schicken wenige Texte, andere 40 bis 50, obwohl in einer Anthologie bestenfalls ein paar Beiträge pro Autor veröffentlicht werden können. Es ist dann auch haufenweise lyrischer Schrott darunter, für dessen Lektüre man eigentlich Schmerzensgeld erhalten müßte. Aber als engagierter Herausgeber liest man alles bis zur letzten Zeile, ärgert sich, daß so viele Dilettanten sich offenbar für Dichter halten und legt den Kram ad acta: nicht verwendungsfähig. Ja, so wird man allmählich zum Lyrikmasochisten, in den Augen der Dilettanten wohl eher zum Sadisten, weil man von ihnen nicht mal einen Dreizeiler veröffentlicht. Allerdings bleiben immer genug annehmbare bis hervorragende neue Gedichte auch weniger bekannter Verfasser übrig, mit denen man Jahr für Jahr lesenswerte und niveauvolle Anthologien füllen kann. Da kommt Entdeckerfreude auf, die für den vielen Schrott entschädigt.«

Kölner Bucht

In seinem Band »Stille Nacht nur bis acht« verknüpft der Lyriker Axel Kutsch Assoziationen zu einem Bewußtseinsvorgang, der zwischen den Zeiten vermittelt, das Vergangene hervorholt, Träume realisiert und so Gedanken ins Sprachbild bringt. Es ist diese offene Form des Schreibens, die ihn immer am meisten interessiert hat. Eine offene Form, die sich selbst bildet. Axel Kutsch formuliert indirekt eine Frage, die viele Gedichte in diesem Band stellen: die Frage, was die Menschen antreibt und umtreibt. Die Frage, was die Erinnerung mit uns anstellt, diese Trösterin, die immer wieder aufflackert und nie verlässlich ist und die mitunter ein Stachel ist. Vielleicht versteht man seine Gedichte am besten, wenn man als Lesemodell das Parodiekonzept Peter Rühmkorfs in Anschlag bringt, der postuliert hat, die Parodie müsse ihren Gegenstand dialektisch vorführen, ihn eben nicht nur ironisch in Frage stellen, sondern ihn auch aufheben, aktualisieren und somit weitertradieren. Darum scheint es auch diesem Lyriker zu gehen, wenn er sich den Charme, die Suggestivkraft und den poetischen Glanz dieser anachronistischen Sprache mit stupendem stilmimetischem Talent anverwandelt. Kutsch entwirft das Bild einer chaotischen Welt, aus der einen keine Geschichtsphilosophie, Meta–Erzählung oder Religion retten kann und feiert in seinen Gedichten gerade deshalb die Freiheit des Einzelnen.

Aus dem Hinterland

Lyrik wäre nach allen ökonomischen Gesichtspunkten schon immer zum Aussterben verurteilt gewesen, und trotzdem hält sie sich nach wie vor, notfalls eben in der Form der Samisdat. In den Anthologien »Versnetze_eins« bis »Versnetze_drei« präsentiert Axel Jutsch so unterschiedliche Lyriker wie Michael Arenz, Maximilian Zander, Michael Hillen, Christa Wisskirchen, Frank Milautzcki, Matthias Kehle, Axel Kutsch oder Theo Breuer. Die große Gabe von Theo Breuer, die ich in dessen Gedichtbänden »Nacht im Kreuz« und »Wortlos« erlebe, ist es, das, was ich lese, wie soeben geschehen aussehen zu lassen. Immer wieder gibt es diese Momente in seinen Gedichten, Szenen, die sich im Gedächtnis festsetzen, die nicht verlierbar sind – eine Art Triumph des Gedichts. Der Strippenzieher aus dem Hinterland über seine Zusammenarbeit mit dem Herausgeber Peter Ettl:

„Als Peter Ettl 2006 mit dem Vorschlag an mich herantrat, einen Gedichtband in seiner neuen Lyrikreihe herauszugeben, reagierte ich zunächst abwartend. Ich hatte gerade die Herausgabe der Monographie »Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000« hinter mir, und mir war überhaupt nicht nach einem weiteren Buch. Ich bat um Bedenkzeit und schlug Axel Kutsch vor, bei dessen Band »Stille Nacht nur bis acht« ich das Lektorat übernahm. Das war gleichsam Initialzündung sowohl für meinen Band als auch die seitdem immer intensiver gewordene Zusammenarbeit, die 2009 in einen zweiten Band von mir in der Reihe mündete und die ich nicht mehr missen möchte. Peter Ettl ist ein gefühlvoller und zuverlässiger Herausgeber, in dessen katzenumsprungener Silver Horse Edition ich mich sauwohl fühle, zumal die Lyrikreihe von Band zu Band an Format und Profil gewinnt.“

Theo Breuer läßt es laufen, er überläßt sich den Wörtern, er improvisiert, das Kalkül kommt erst viel später ins Spiel. Souverän knüpft er damit in seinem Band »Nacht im Kreuz« an die literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, stellvertretend sei „verinnerung an oskar p.“ genannt. Was im Lehrbuch steht, ist nur ein Ausschnitt aus der Literaturgeschichte. Lyrische Figuren haben ihr eigenes Leben, auch ihre eigene Vorgeschichte. Sie schwingt mit in den Zeilen, grundiert die Handlungen. Theo Breuer komplettiert seine Vorstellung von der lyrischen Moderne. Er entwirft, basierend auf der Literaturgeschichte, eine Art von Lyrik, die über diese literarischen Vorlagen hinausreicht. Die große Gabe von Theo Breuer ist es, das, was man liest, wie soeben geschehen aussehen zu lassen. Immer wieder gibt es diese Momente in seiner Lyrik, Szenen, die sich im Gedächtnis festsetzen, die nicht verlierbar sind – eine Art Triumph der Literatur.

Ist Lyrik ›schwierig‹?

Als ein Genre, welches enger als jede andere literarische Gattung an Klang und Rhythmus von Sprache gebunden sind, sind Gedichte für den Laien bisweilen schwer zu be/greifen. Gedichte sind allerdings auch kein Kreuzworträtsel, welches es zu lösen gilt. Wirtschaftlich betrachtet, ist Lyrik per se glatter Unsinn, aber Betriebswirtschaft ist im Leben eben nicht alles. Und so haben Lyrikeditoren wie die Peter Ettls besonders schwer und besonders leicht zugleich: „Es ist halt alles relativ“, wie es in Ödon von Horvaths Stück »Italienische Nacht« immer wieder heißt.

Die Lektüre des zweisprachigen Bands »Inseln – Isole« zeigt, daß Peter Ettl mit wenigen Strichen literarische Bilder entwirft, von der Einsamkeit, der Auflösung des Individuums, vom Brachliegen aller erworbenen Fähigkeiten, von der Sehnsucht nach einem anderen Leben, aber auch vom Lebenswillen. Dieser Lyriker will, was alle Dichter wollen, die Conditio humana formal bewältigen und so momenthaft zu transzendieren und vergessen machen. Das Tröstende seines ästhetischen Spiels Versen offenbart sich nachdrücklich. Die verspielte Nonchalance und Unverkrampftheit hält er hoch. Seine Poesie ist die Kunst, auf jede Antwort noch eine Frage zu haben, alles Selbstverständliche unselbstverständlich werden zu lassen. Dieser Lyriker bewerkstelligt es, daß seine Gedichte Bewusstsein und Sendungsbewusstsein haben, daß sie sich fühlen, als hätten sie ein Selbst. Im Grunde handelt Ettls Lyrik stets auch von den anderen, um von sich selbst zu sprechen. Und dies vom Sehnsuchtsland rückgespiegelt zu bekommen hat seinen ganz eigenen Charme.

Rheinland

Mit seinen Gedichten bewegt sich Wolf Doleys im Widerspruch zum Literaturbetrieb, er will den Ursprung, er will sie jedoch bewußt. Das hat die Konsequenz, wenn er sich schreibend über die Verse beugt, die Unschuld immer schon verloren ist. Doleys Gedichtband »ins blaue springen«, enthält bereits im Kern die späteren theoretischen Überlegungen, seinen Kampf gegen das Kleinbürgertum und die Konsumgesellschaft, wird hier zur lyrischen Klammer, die sein Denken zusammenspannt. Manchmal scheint es, als wolle dieser Autor in der Entwicklungsgeschichte des lyrischen Ichs die Welt an den Enterhaken nehmen. Das Schreiben ist für Doleys immer auch die Emanzipation von der papiernen Welt, ist das Verlassen des akademischen Kreislaufs, der zyklisch strukturierten Welt, ist das Hineingehen in die Linearität und damit der Eintritt in die Geschichte. In »Entfant perdu« packt der vielseitige Intellektuelle Doleys sein avanciertes Wissen und seine klugen Reflexionen zum Thema „linke Utopie“ in ein Form und stöbert in einem Metaphernhaushalt der viele Facetten des Zeitgeistes aufweist. Seine Beschreibung dieser Experimente ist in ihrer Klarheit hinreißend und schient ein fernes Echo auf Ernst Blochs »Das Prinzip Hoffnung« zu sein. Wenn man seine Essays liest, meint man, die Moderne beginnt, wo der Ursprung, die Herkunft historisch und zugleich vergessen wird; sie leugnet die Verwurzelung in ewig gleicher Überlieferung und behauptet eine Geburt aus eigener Kraft. Doleys pustet den Denkerstaub von Intellektuellen beiseite, die den Vogelflug einer vergänglichen Idee mit der unvergänglichen Faktizität der Geschichte verwechseln. Hier ist ein Eigendenker zugange, der den stilistischen Posaunenton als spätexpressionistisch entlarvt. Seine Essays sind vagabundierende Gedankenzüge, anregend und schillernd, immer geistreich und nie langweilig. Doleys ist ein Fischer am Ufer der Kulturgeschichte. Unermüdlich zieht er sein Netz durch den Strom der Überlieferung, und geduldig fängt er ungewöhnliche Gedanken ein.

Endmoränenlandschaft

Wie schon in dem Band „kindheit und kadaver“ verfügt Holger Benkel aus Schönebeck (bei Magdeburg) auch in seinem Band »meißelbrut und andere gedichte« über kulturelle Deutungsmuster und Übersetzungsmöglichkeiten, die anderen fehlen. Für diesen Lyriker leuchtet die Devise einer abfallgeplagten Epoche auch als Lebensdevise ein. Seine Biographie erscheint als Zwischenexistenz, als interkulturelle Existenz, aber sie dient ihm der produktiven Herausforderung und nicht irgendeiner 'Verostung'. Für jemanden, der auf dem Land zu Hause ist und der die Welt der Arbeit ganz genau kennt, der Schreibkrisen hinter sich hat und erst spät entdeckt wurde, scheint das Bild des Außenseiters wie geschaffen. Kein Buch ist für Autoren riskanter als eines, das Gefahr läuft, zu hastig gelesen zu werden. Die Gedichte von denen hier die Rede ist, behandeln einen großen, weitläufigen und einschüchternden Gegenstand, da kann Eile alles vernichten. Sorglichkeit, scheint mir, hat Benkels Umgang mit der Sprache geprägt. Das einzelne Wort, und sei es das harmloseste, besitzt bei ihm einen eigenen Wert, ist unersetzlich und kostbar. So kam er mit immer weniger Sätzen aus, und sie hatten ein immer größeres Gewicht. Der Glanz, der unvergleichliche Klang seiner Gedichte nährt sich aus dieser Ehrfurcht vor dem einfachen Wort. Seine Gedichte kreisen oft in parabolischer Form um den Tod. Bei Holger Benkel sind Selbstwahrnehmung und öffentliches Rollenklischee schon früh miteinander verschmolzen. Jeder Dichter scheint eine ihm eigene Welt zu bewohnen mit einem ihm eigenen Mobiliar, seiner Poesie. Das Typische an der Poesie von Holger Benkel liegt im eigenen Klang. Seine Gedichte verlangen nach einer alle Sinne mit einbeziehenden Lektüre, um in ihrem vollen Gehalt erfasst zu werden; sie erfordern Respekt und Ruhe. Der Magdeburger Börde, in der er geboren wurde, hält er bis heute die Treue. Auch die meisten Bewohner seiner Kreisstadt haben sich inzwischen arrangiert mit dem schreibenden Nachbarn. Mit seinen Gedichten hat er dort Fährten eingezeichnet, die nicht so schnell verblassen dürften. Von westlichem Verschwörungsdenken ebenso weit entfernt wie von östlicher Zerknirschtheit, betreibt er beinahe eine Archäologie der Lebens– und Seinsformen in der ehemaligen DDR und im Nachwendedeutschland. Er wirft einen genauen Blick auf existenzielle Grenzbereiche und Überschreitungen zwischen der sinnlichen Anschauung und der Halluzination variieren Motive der Todesmystik. Seine expressionistischen und surrealen Kunstgriffe sind keine Stilübungen oder Zitate, sondern auf einer anderen Eben zugleich Schilderungen des Erlebten. Besonders die darin dominierende Schwermut, das Dunkle und Lebensuntüchtige manövrieren den Leser mitunter an den Rand sichtlicher Erschütterung. Die literarische Gestaltung gesellschaftlicher Zustände und Prozesse kann indes beinahe nur gelingen, wenn man sie sich nicht dauernd vornimmt, sondern vielmehr aus der eigenen Erfahrung heraus schreibt. Wichtig sind für Holger Benkel Momente, die er weniger zu fixieren als vielmehr zu finden trachtet. Dabei werden sie zu einer existenziellen Erfahrung, die in einer anderen als der gefundenen Formulierung nicht aufzuheben ist: als Denkprozesse mit und in der Sprache. Diese zeugt Unterwelt und zeigt damit auf Welt, mythologisches verbindet sich mit Alltäglichem, in immer neuen Anläufen und Konstellationen und jedes Mal wieder auf völlig überraschende Weise.

Emigration in die Sprache

Töricht, sagt Hebbel, wer vom Dichter Versöhnung der Dissonanzen verlangt. „Aber allerdings kann man fordern, daß er die Dissonanzen selbst gebe.“ Sprachdichte hat noch eine andere Dimension, eine tiefer gehende Eindrücklichkeit, kann durch scheinbar unlogisches Ineinanderschieben von Erlebnis–, Gedanken– und Klage–Ebenen das Lot tiefer senken. Da erreicht es uns, „magisches Spiel in einem magischen Raum“ – uns, die wir trotz aller Warnungen des Romanciers eben doch annehmen, Literatur sei wichtiger als eine Aktie. Francisca Ricinskis Blütenpapierprosa kennt wohl die Frage, aber nicht die Antwort, es sei denn Hölderlins „Was bleibet aber, stiften die Dichter“. Manches mag dann weniger werden und vieles uns abhandenkommen, die Dichtung aber bewahrt es, indem das Verlorene zur Kunst wird. Verklärung ist nicht die Sache von Francisca Ricinski, jedoch die Entdeckung von Schönheit noch in den winzigsten Gegenständen und Gesten. Es präsentiert sich eine Lyrikerin, die mit genauen Beobachtungen und einer melodischen, sehr präzisen Sprache arbeitet. Auf behutsame und eindringliche Weise erkundet sie die eigene Geschichte, es sind nicht selten verstörende Erinnerungen, die befragt werden, und sie dürfen ihre Rätselhaftigkeit bewahren und in der Schwebe bleiben. Die inzwischen im Rheinland beheimatete Francisca Ricinski hat nie versucht, den sprachlichen Modismen zu folgen. Der sicherste Weg ins Unmoderne ist, das Moderne zu pflegen, weil man das morgen nicht mehr hören kann. Anhaltspunkte aus der menschlichen Wirklichkeit. Ihre Figuren sind in das Mahlwerk einer übergroßen zerstörerischen Macht geraten. Sie haben überlebt, doch nun sind ihnen Bilder eingebrannt. In zahlreichen, oft kaum merklichen Rückblenden eines zurückhaltenden Erzählers macht sich der Klammergriff bemerkbar, in dem diese Bilder die Gegenwart halten. Unbekümmert, mit feinem stilistischem Gespür mischt sie Genres, verbindet Analysen mit Impressionen, gleitet vom Heute ins Gestern und wieder zurück. Was einmal war, ist nur noch in der Sprache gegenwärtig, in einem lyrischen Erzählen, das seine Dringlichkeit mit jedem Vers beweist. Francisca Ricinski schreibt präzise und sensibel, sie versteht es, die große Geschichte mit der kleinen zu verschränken, das Persönliche ins Allgemeine laufen oder besser: stürzen zu lassen. Wenige Skizzen reichen ihr, ihren Protagonisten ein persönliches Antlitz zu geben. Nichts scheut sie so sehr wie das Pathos des Individuellen, die Überfrachtung der Poesie mit Unmengen von Privatem, auf das der Leser auch ja verstehe, welch einzigartiger Mensch da verloren geht. Aufdringliche Privatmythologie ist ihre Sache nicht, die Texte bleiben schlank. Es gibt bei ihr eine Einfachheit der Sprache, eine Natürlichkeit der Dialoge, die den Abstand zur Literatur geringer erscheinen lässt. Dabei müssen die Menschen nicht unbedingt so sprechen wie „im richtigen Leben“. Aber man spürt, daß die Worte, Sätze, die Francisca Ricinski für sie schreibt, ihnen entsprechen.

Ostheim / Rhön

Peter Engstlers Gedichte wenden sich radikal sich gegen alle gesellschaftlichen Normierungen, gegen den ganzen Literatubetrieb und dies auch ausdrücklich auch orthographisch, provozierend mit einer verwegenen Verknäuelung von Hybris und Demut, Tiefsinn und Posse. Seine Lyrik streift das Ephemere von den Momenten und Gelegenheiten, die sich dem dichterischen Zugriff bieten, fast vollständig ab und führt sie in Augenblicke glasklarer Beobachtung über. Ohne Rücksicht auf soziale Rituale und Reglements bricht Peter Engstler verkrustete Strukturen auf. Dieser Autor interessiert sich gleichermaßen für die Wirklichkeit, die Psyche und das Unbewusstsein, hier sucht er nach der letzten Wahrheit. Seine Texte entäußern die innere Bewegung und verinnerlichen zugleich das Äußere. Schon früh hat sich dieser Autor in das Biosphärenreservat an die Rhön zurückgezogen. Den vulkanischen Ursprung dieses Gebirgszugs ahnt man ebenso als Bodensatz seines Schreibens, wie die offenen Fernen. Aus diesem Hinterland gelingt ihm ein Transfer der Normalität ins Pathetische. Mitunter nicht ohne ironischen Nebenton, der als kritisches Element in seinem neuen Band »Strophen eins« mitschwingt. Es geht in diesem Band um die andere Wirklichkeit, die durch Literatur in die Welt kommt. Diese Lyrik ist kein Selbstzweck, sondern eine klug angelegte, tief gestaffelte Vorrichtung, in das Publikum auf Wortfelder trifft. Behutsam fächert Engstler die Variationen des Blicks auf die Gegenwart auf und lädt dazu ein, das eigene Begreifen als vorläufiges, vergängliches zu begreifen. Dies ist ein Buch voller Lebensweisheit, aber es stellt diese Weisheit an keiner Stelle zur Schau. Es geht in »Strophen eins« darum, den Lesern das Disparate nahe zu bringen. Mit einfachen Worten: Es geht um prismatische Wahrnehmung.

Sauerland

Drei Schlagworte beleuchten das erste Künstlerbuch von Stephanie Neuhaus: Nüchtern, beobachtend und pointiert. Ihre Kombination von Wort und Strich entzieht sich jeder Ästhetisierung ebenso wie jeder geheuchelten Nähe. Wenn so etwas wie nüchterne Poesie konstatiert werden kann, dann findet man sie in diesem Künstlerbuch. Die Sauerländerin Stephanie Neuhaus verfolgt das Ideal eines Künstlerbuches, in welchem Bilder Texten gegenübergestellt werden, ohne daß sie sich jeweils illustrieren, doch sie ergeben ein folgerichtiges Ganzes. Sie untersucht das Wesen des Schattens in ihren fast spröden Gedichten wie Bildern und lässt den eigentlichen Charme ihrer Poesie erst mit dem letzten Wort zur vollen Entfaltung kommen. Ohne eigentliche dichterische Sprache, ohne die Möglichkeit, sich im Literaturbetrieb zu verständigen, ist sie abhängig von leisen Gesten. Stephanie Neuhaus ist empfindsamer für Signale, ihre eigenen und die anderer. Es liegt etwas Traumwandlerisches in den Bildern von Stephanie Neuhaus, sie erzählen Geschichten, so unwahrscheinlich und widersprüchlich, daß immer, wenn man denkt, sie begriffen zu haben, sich eine neue Geschichte, eine neue Deutung ergibt. Es sind offene Bilder, sie laden ein, darin zu wandern. Was künstlich wirkt, ist so nah an der Natur, daß die Illusion von Leben bleibt. Die Linolschnitte von Stephanie Neuhaus wirken bekannt, irgendwo schon gesehen, aber erst mit dem Rücken eines entblößten Menschen, dem Spiel des Lichts auf der Haut wird man diese Bekanntschaft erkennen. Die schlaglichtartige Ausleuchtung gibt diesem Arbeiten ihre Struktur, formt eine fließende Welt des Schattens, Formuntersuchungen trotzdem, ganz nüchtern protokolliert. Stephanie Neuhaus sucht in ihren Linolschnitten einen grafisch anmutenden Rahmen, ihre Bilder haben Fluchten und Achsen, sie geben dem Blick nicht nur eine Richtung, sondern der Szene etwas bewußt Tableauhaftes, als ob die Artistin das Beschränkte des eigenen Blicks offenlegen wollte. Dieses Erstlingswerk fordert; auch zu kritischer Teilhabe.

Wie kaum eine andere Werkstattgalerie in Deutschland hat 'Der Bogen' in Arnsberg immer großen Wert auf die handwerkliche Erarbeitung von Künstlerbücherm gelegt. Von den Materialbüchern des Jürgen Diehl, über die »Schland–Box« von Peter Meilchen, bis hin zu den Haimo Hieronymus’ Erkundungen über die Möglichkeiten der Linie zwischen Schrift und Zeichnung findet sich eine Vielfalt des Ausdrucks, die ihres Gleichen sucht. Die kurze Form ist auch Haimo Hieronymus einen Versuch wert. Seine sprachlichen »Miniaturen« gehen ins Aphoristische. Als Sprach–Bildner prägt Haimo Hieronymus visuelle Sprachskizzen, Polaroids der Erinnerung. Und dies in Form eines Künstlerbuchs, das in der Edition Das Labor bestellt werden kann.

Gedichte als Stimmen–Speicher

Für den eingebürgerten Rheinländer A.J. Weigoni ist das Buch eine Partitur, die es in Konzerten der Sprache aufzuführen gilt. Mit hoher Konzentration komponiert er eine Elegie über die entzweiende Kraft des Eros. Seine Sprache hat Eleganz und Musikalität, und seine „Letternmusik“ ist voller Weisheit und Humanität. Wer sich die Mühe macht, die Gedichte laut zu lesen – was für diese Gattung eigentlich generell zu empfehlen ist – merkt schnell, mit welch unglaublicher Präzision und Raffinesse sie rhythmisiert sind. Das Spielen mit Wörtern und das Verschieben der Semantik mit anderen Worten generiet eine Worterotomanie, Linguistik als tanzbares Mantra. Eine Musik aus Buchstaben komprimiert: Polyphonie aus Silben und Wörtern, absolute Musik wie beim späten Monteverdi als Äquivalent für das, was mit Sprache den eigenen Beschädigungen und denen der Welt um diesen kleinen Ich–Mittelpunkt herum entgegengestellt werden kann. Die Rettung hinein ins kulturelle Gedächtnis, auch wenn der Anteil auch noch so gering ist. Für einen Moment nur, über die Konventionen unserer Vorstellungen von Lebenszeit hinaus gedacht, sich an einem bestimmten Punkt in die große Gleichzeitigkeit der Künste eintragen zu können, ist das unbescheidene Sehnsuchtsziel für A.J. Weigoni. Rhythmisch, lautmalerisch und konsonantenreich macht er Sprache als Material sichtbar. Ihm gilt seine unablässige Aufmerksamkeit: die Sprache, die vor ihm denkt und aus ihrem magischen Ursprung ihre Kraftlinien und Rhythmen mitbringt, ohne die kein dichterischer Text möglich wird. In der Bereitschaft des Lyrikers, sein Schreiben ihrer Eigenbewegung, ihrem Atem zu überantworten, ist Sprache nicht mehr nur Mitteilung oder Aussage; sie wird Evokation, wird eine Dimension von allem Geschehenden selbst, eine Dimension der Bilder, die aus der Erinnerung aufleuchten. Seine Gedichte sind präzis gearbeitete Vexierbilder, die ihre unterschiedlichen Seiten schon beim ersten Anblick erspüren lassen, um dann, bei genauerer Betrachtung, eine Tiefenschärfe bis in ihre filigrane Technik hinein zu entfalten. Diese Gedichte sind ein Sprach–Spiel mit der Aufforderung zum Mitspielen.

MeckPom

Die sogenannte Provinz ist keine literarische terra incognita, kein weißer Fleck in den Atlanten der Lyrik mehr. Die Bewahrung der Poesie gewinnt für die blank generation in genau dem Moment einen historischen Sinn, in dem das Tragische seines Lebens und das der Geschichte miteinander verschmelzen. Dies ist nicht zuletzt nachzuvollziehen auf der von Michael Gratz in unermeßlichem Sammlerfleiß erstellten lyrikzeitung, die den umfassendsten Überblick über das lyrische Geschehen gibt. Gratzs Führung durchs Labyrinth der lyrischen Welt ist bewundernswert, und es fehlt dabei auch nicht an Hinweisen auf den intellektuellen Kontext, in dem sich das Leben, Denken und Dichten abspielt. Hervorragend ergänzt wird die lyrikzeitung von Andreas Heidtmanns stilvoll edierten Poetenladen. Als Herausgeber scheint er eine Art Universalpoesie im Sinn zu haben. Er hat mit www.Poetenladen.de im Internet eine gut besuchte Plattform für Gegenwartsliteratur geschaffen, die einen verlässlichen Überblick liefert. Dieser Poetenladen soll weder in den Klappkasten der schöngeistigen noch der engagierten Literatur passen, hier spiegelt sich die deutschsprachige Gegenwartspoesie in all ihren Facetten und Spielarten.

„In Wahrheit sind solche Zeitschriftenmenschen nur noch Randfiguren des literarischen Betriebs, literaturverrückte Einzelgänger und Sturköpfe, die sich von mageren Renditen nicht von ihrer Leidenschaft für die Literatur abbringen lassen und sich einen hartnäckigen Entdeckerehrgeiz für literarische Begabungen und vergessene Texte bewahrt haben. Zeitschriftenmacher wie Andreas Heidtmann aus Leipzig – das sind die letzten Abenteurer des Geistes, unterwegs nicht nur auf allen Kontinenten der Weltliteratur, sondern auch in den Winkeln der Provinz, um dort die unentdeckten Talente der Gegenwartsdichtung aufzuspüren. Andreas Heidtmann, der heute für sein Literaturmagazin POET mit dem Hermann–Hesse–Preis der Stadt Calw ausgezeichnet wird, hat seit 2005 gleich zwei literarische Horchposten errichtet, die zur Verbesserung unserer literarischen Infrastruktur beigetragen haben: Er hat mit dem „Poetenladen“ im Internet eine gut besuchte Plattform für Gegenwartsliteratur geschaffen, die einen im Getümmel der Newcomer, Novizen und ambitionierten Talente einen verlässlichen Überblick liefert. Und er hat 2007 mit dem Literaturmagazin POET eine Zeitschrift gegründet, die auf jeweils rund 200 Seiten den allerjüngsten Metamorphosen der viel versprechenden Jungen Literatur auf sehr inspirierte Weise nachspürt…“, würdigte Michael Braun in der Laudatio auf Andreas Heidtmann und den POET, anlässlich der Verleihung des Calwer Hermann–Hesse–Preises.

Nimmt man zu den vorgenannten ergänzend den von Shafiq Naz edierten Lyrikkalender dazu, stellt man fest, daß wir in geistig in guten Zeiten leben, so aufregend war deutsche Lyrik seit dem Barock nicht mehr. Die fragilste der literarischen Formen gilt gemeinhin als deren teuerste, und dies im doppelten Sinn: Die Randständigkeit der Lyrik abseits des ökonomischen Gewinns steht in direkter Proportion zu der hohen symbolischen Wertschätzung, mit welcher man sie bedenkt. Lyrik scheint ein Gut zu sein, das zugleich sein eigener Marktpromoter ist. Wenn es gut geht, schafft sich Lyrik eine Gesellschaft, die bereit ist, sie am Leben zu erhalten.

Bogenschlag zwischen Vertrautem und Unver¬trautem

Im 21. Jahrhundert ist Selbstentblößung unter jungen deutschen Autoren ganz normal. Je lauter man brüllt, desto schlechter wird man verstanden, das heißt, je greller eine Entblößung daherkommt, desto weniger schockiert sie. Die gegenwärtige deutschsprachige Lyrik ist von einer ungeahnten Produktivität und Vielfalt. In den letzten Jahren haben sich unzählige neue Stimmen gemeldet, mit sehr unterschiedlichen Ansätzen und nicht selten in einer intensiven Auseinandersetzung mit der lyrischen Überlieferung. In den Traditionslinien, die Axel Kutsch in »Versnetze_eins« bis »Versnetze_drei« aufzeigt, geht es um die Rückkehr zur Aufklärung. Peter Hacks etwa hat sich immer gegen Brechts Aufklärungskunst gewandt. Seine Argu¬ment lautete: „Aufgeklärt sind längst alle, nun schaut man, was noch zu tun ist. Das stimmt aber leider nicht. Nun ist die Frage, zurück zur Aufklärung oder nicht?“ Axel Kutsch stimmt dem zu, aber nicht zu derselben Art von Aufklärungsliteratur. Einfach mit Aufklärung oder Klassik weiterzumachen geht gerade dann nicht, wenn man besonders stark damit sympathisiert. Das ist ein großer Gedanke Ezra Pounds: „Um etwas wieder zu tun, muß ich es neu machen.“ Tradition heißt „immer wieder an¬ders daßelbe“.

Als Kutsch die Lyrik–Anthologie »Jahrhundertwende« vorbereitete, dachte er im Vorfeld laut über den Titel nach:

„Einige in meiner Umge¬bung haben mir geraten, die Anthologie »Jahrtausendwende« zu nennen. Das wäre mir zu bombastisch und zu vermessen. Mit einigem Glück wird die Menschheit die kommenden Jahrzehnte noch überstehen, aber kaum das nächste Jahrtausend. Wir haben es in¬zwischen soweit gebracht, daß das Denken in großen Dimensionen an Scharlatanerie grenzt. Im 20. Jahrhundert ist gnadenlos viel kaputtgemacht worden. Und so wird es weitergehen. Keine Aussicht auf Besserung. Ich blieb also bei »Jahr¬hundertwende«. Diese Thematik umfasst man¬cherlei Aspekte: Blick zurück in ver¬gangene Epochen, auf die Gegenwart und in die nähere Zu¬kunft. Das Buch ist ein inhaltlicher und stilistischer Fin–de–siècle–Seismograph zeitgenössischer deutsch¬sprachiger Lyrik.“

Die innere Notwendigkeit eines Gedichts

Axel Kutschs eigene Gedichte, die in Büchern wie in »Einsturzgefahr« oder »Ikarus fährt Omnibus« nachzulesen sind, verknüpfen Assoziationen zu einem Bewusstseinsvorgang, der zwischen den Zeiten vermittelt, das Vergangene hervorholt, Träume reali¬siert und so Gedanken ins Sprachbild bringt. Es ist diese offene Form des Schrei¬bens, die ihn immer am meisten interessiert hat. Eine offene Form, die sich selbst bildet. Axel Kutsch entwirft das Bild einer chaotischen Welt, aus der ei¬nen keine Ge¬schichtsphilosophie, Meta–Erzählung oder Religion retten kann und fei¬ert in seinen Gedichten gerade deshalb die Freiheit des einzelnen. Man möchte seine An¬thologien nicht missen, ihm andererseits mehr Zeit für seine eigene Arbeit wün¬schen:

„Während der Wochen und Monate, in denen ich selbst mit der Zusammenstellung einer Anthologie beschäftigt bin, fällt mir meistens kein akzeptabler Vers ein. Aber niemand zwingt mich zu dieser editorischen Arbeit, die ja auch ihren schöpferischen Stellenwert hat. Ich mache das höchst freiwillig und ausgesprochen gerne, auch wenn damit eine gewisse Selbstausbeutung verbunden ist.“

Hoch¬gespannt¬heit

Das Lesen ähnelt dem Schreiben, es ist ein kreativer Prozess. Das Schreiben fasse ich als das Auffinden eines verborgenen, inneren Textes auf. Die Arbeit dieses Lyrikers besteht darin, dem Wesen des Menschen auf die Spur zu kommen, und zwar jenseits von Urteilen oder Therapievorschlägen, deshalb studiert er den Menschen sehr genau. Es muß Schriftsteller geben, die kritische Fragen stellen und hohe moralische Ansprüche vertreten – sonst bleibt nur die Barbarei. Wenn es stimmt, daß die Lyriker als letzte Sinnstifter gesucht werden, ist es ein gutes Zeugnis für die westliche Gesellschaft, daß sie Lyriker als öffentliche Stimmen derzeit nicht benötigt. Hauptsache, die Lyriker werden gelesen. Umgekehrt hat ein Lyriker, der die Gesellschaft erst beeinflussen will, bevor er sie beschrieben hat, seinen Beruf verfehlt. Gute Lyriker sind beim Schreiben kühl und unbestechlich. Und sie lassen sich beim Nachdenken viel Zeit. Wünschen wir dem Herausgeber und Ly¬riker Axel Kutsch noch viele Mußestunden.


Quelle:

Axel Kutsch (Hrg.): »Versnetze_eins« bis »Versnetze_drei« Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart. Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2008 – 2010.

»Entfant perdu« von Wolf Doleys, Edition Lichtenberg, Odenthal
»meißelbrut und andere gedichte«, Ziethen–Verlag 2009
»Zug ohne Räder / Trenul fara roti«, lyrische Prosa, rumänisch und deutsch von Francisca Ricinski, Editura Fundatiei Culturale Poezia, Iasi/Rumänien 2008
Peter Engstler, »Strophen eins«, Medien Streu, Ostheim/Rhön 2009
„Schattenfluss“ von Stephanie Neuhaus in der Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr
»Dichterloh« ist in der LYRIKEDITION 2000 erschienen und erhältlich über: info@buchmedia.de
Die Doppel–CD 'Gedichte' von A.J. Weigoni ist erhältlich über: info@tonstudio–an–der–ruhr.de

Links:
»Kollegengespräche« http://www.vordenker.de/kollegen/kutsch.htm
http://www.silverhorseedition.de
http://www.poetenladen.de
http://lyrikzeitung.wordpress.com/
http://www.alhambrapublishing.com/
VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie: http://www.vordenker.de/weigoni/verdichtung.htm