Die traurige Geschichte vom Verharren
Der historischer Hintergrund des Stückes sei zuerst angeführt: Mitte des 16. Jahrhunderts, die Niederlande sind unter spanischer Herrschaft. Die Regentin Margarete ist dem Land vom spanischen König als Herrscherin vorgesetzt.
Dieses Trauerspiel in fünf Aufzügen, an dem Goethe wohl 15 Jahre gearbeitet hat, seit er es als ganz junger Mensch begonnen hatte, hat die Besonderheit, daß es zwar fortschreitet in einer an die Historie angelehnten Handlung, einem sich anbahnenden Konflikt zwischen den Niederländern und Spanien – aber gehandelt wird nicht. Und daß nicht wirklich eine wie immer geartete Entwicklung eines der Protagonisten stattfindet.
Der Held, Egmont, tut nichts als was er schon immer getan hat: er ist spontan, lebt dem Augenblick – (ein Goethesches Motiv, das er bekanntermaßen bis zum "Faust" fortführt und stets neu ausprobiert) – ist mutig und auch übermütig und fühlt sich im ganzen wohl in seiner Haut und Stellung und in der begeisterten Zuwendung des Volkes zu ihm. Klärchen, die ihn liebt, hat keinen Grund, etwas anderes zu wollen als diese Liebe, weil Egmont sie wiederliebt.
Mit dem Hintergrund der Handlung verhält es sich ähnlich: Die überkommenen Rechte der Bevölkerung der Niederlande waren ebenfalls schon lange da – nur daß sie jetzt ins Bewußtsein gerufen werden, gibt Anlaß für jene Konflikte, welche die Regentin mit der ihr anvertrauten Bevölkerung und dem niederländischen Adel auszutragen hat. Dabei will Egmont und will auch die Regentin, jeder für sich, die vorhandenen Ursachen für Konflikte nicht zuspitzen, sondern vielmehr ausgleichen.
Diese Gegenspieler, Egmont und die Regentin, die man mit Recht als solche wohl nicht bezeichnen kann, treiben keine Handlung voran. Dennoch handelt einer, aber er ist keine Person des Stückes: der König von Spanien ist gesonnen, sich auf keinen Ausgleich mehr einzulassen und seine absolutistischen Interessen durchzusetzen; er schickt den Herzog Alba nach Brüssel. Die Regentin handelt nun, indem sie sich jeglichem Handeln entzieht: sie tritt zurück.
Der Fürst von Oranien, ein vorzüglicher Vertreter des niederländischen Adels wie Egmont, reagiert auf diese Entwicklung, indem er sich absetzt, also für den Moment auch nicht mehr handelt. Egmont, den er überreden will, sich ebenfalls aus Brüssel und vor dem Zugriff der Macht zu entfernen, zieht es vor zu bleiben und wiederum: zu verharren.
So geschieht es, daß der 3. Aufzug, geeignet zur ‚Schürzung des Knotens‘ des Konflikts zwischen niederländisch-freiheitlichen und königlich-zentralistischen Interessen, der blasseste Teil des Stückes wird: Egmont zeigt sich Klärchen in seiner Paradeuniform und versichert ihr, daß er als Ritter vom Goldenen Fließ niemandes Recht unterstehe, daß er quasi unverwundbar sei.
Die interessanteren Teile des Stückes sind zwei Weltanschauungsdialoge, nämlich der im zweiten Aufzug zwischen Oranien und Egmont, und der im vierten Aufzug zwischen Herzog Alba und Egmont. Im zweiten Aufzug: auf Oraniens Vorschlag, nach dem Rückzug vom Hofe eine Gegenmacht aufzubauen, entgegnet Egmont: „…den Fluß herunter werden dir die Leichen der Bürger, der Kinder, der Jungfrauen entgegenschwimmen, daß du mit Entsetzen dastehst und nicht mehr weißt, wessen Sache du verteidigst, da die zugrunde gehen, für deren Freiheit du die Waffe ergriffst.“ Es ist die Frage von Gewalt oder Menschlichkeit, die Frage: entweder eine Macht sein oder: sauber sein, wenn man ankommt… Peter Hacks meint zu diesem Zusammenhang: „Goethe hat – allein allenfalls abgesehen von den Fragen seines nicht unheiklen Geschlechtslebens – Zeit seines Lebens über einen Gegenstand nachgedacht: den Widerspruch zwischen der Wirklichkeit der französischen Revolution und den Forderungen der Humanität.“ (P. Hacks. Maßgaben der Kunst. edition nautilus 1996. 1108)
Im vierten Aufzug dann: Egmont outet sich gegenüber dem Abgesandten des Königs, dem Herzog Alba, vehement als Vertreter von Partikularinteressen, religiöser Toleranz und Freiheit. Damit bestätigt er nicht nur alle Vorurteile des Herzogs, was seine Person betrifft, sondern vor allem, daß, um das absolutistische Konzept des Königs auch in den Niederlanden durchzusetzen, an Egmont ein Exempel statuiert werden muß.
Entgegen seinen späteren Ansichten vertritt hier Goethe, eher nolens volens, hat man den Eindruck, den Egmontschen Standpunkt der Verherrlichung der Freiheit, was vor allem in Egmonts Traum im Kerker (5.Aufzug) noch einmal bekräftigt wird.
Daß Goethe in diesem Trauerspiel Fragen gestaltet, die ihn sein ganzes Leben lang weiterbeschäftigen, mag diesem ansonsten wenig ergreifenden Stück dennoch eine Bedeutung geben.