Übersicht
Originalsprache | : | Deutsch |
Stichwort | : | Novelle |
Umfang | : | ca. 72 Seiten |
Verlag | : | aufbau, Diogenes Verlag, Fischer Taschenbuch, Manesse Verlag, Reclam-Verlag |
Buchreihe | : | Manesse Bibliothek der Weltliteratur |
Kurzbeschreibung
»Das Leiden eines Knaben« ist eine Erzählung von Conrad Ferdinand Meyer. 1883 wurde das literarische Werk zuerst veröffentlicht.
Mitmachen / Fehler gefunden
Gern kannst Du bei Kritikatur mitmachen. Als kultureller Verein, Verlag, Buchhandlung oder als Nutzer angemeldet, bieten sich Dir vielfältige Möglichkeiten, sich zu präsentieren.Auf dieser Seite befindet sich eine falsche Angabe oder es fehlt Information. Gib uns Bescheid, um hier nachzubessern.
Der König hatte das Zimmer der Frau von Maintenon betreten und, luftbedürftig und für die Witterung unempfindlich wie er war, ohne weiteres in seiner souveränen Art ein Fenster geöffnet, durch welches die feuchte Herbstluft so fühlbar eindrang, daß die zarte Frau sich fröstelnd in ihre drei oder vier Röcke schmiegte.
Seit einiger Zeit hatte Ludwig der Vierzehnte seine täglichen Besuche bei dem Weibe seines Alters zu verlängern begonnen und er erschien oft schon zu
früher Abendstunde, um zu bleiben, bis seine Spättafel gedeckt war. Wenn er dann nicht mit seinen Ministern arbeitete, neben seiner diskreten Freundin, die sich aufmerksam und schweigend in ihren Fauteuil begrub; wenn das Wetter Jagd oder Spaziergang verbot; wenn die Konzerte, meist oder immer geistliche Musik, sich zu oft wiederholt hatten, dann war guter Rat teuer, welchergestalt der Monarch vier Glockenstunden lang unterhalten oder zerstreut werden konnte. Die dreiste Muse Molières, die Zärtlichkeiten und Ohnmachten der Lavallière, die kühne Haltung und die originellen Witzworte der Montespan und so manches andere hatte seine Zeit gehabt und war nun gründlich vorüber, welk wie eine verblaßte Tapete. Maßvoll und fast genügsam wie er geworden, arbeitsam wie er immer gewesen, war der König auch bei einer die Schranke und das Halbdunkel liebenden Frau angelangt.Dienstfertig, einschmeichelnd, unentbehrlich, dabei voller Grazie trotz ihrer Jahre, hatte die Enkelin des Agrippa d'Aubigné einen lehrhaften Gouvernantenzug, eine Neigung, die Gewissen mit Autorität zu beraten, der sie in ihrem Saint-Cyr unter den Edelfräulein, die sie dort erzog, behaglich den Lauf ließ, die aber vor dem Gebieter zu einem bescheidenen Sichanschmiegen an seine höhere Weisheit wurde. Dergestalt hatte, wann Ludwig schwieg, auch sie ausgeredet, besonders wenn etwa, wie heute, die junge Enkelfrau des Königs, die Savoyardin, das ergötzlichste Geschöpf von der Welt, das überallhin Leben und Gelächter brachte, mit ihren Kindereien und ihren trippelnden Schmeichelworten aus irgendeinem Grunde wegblieb.
Frau von Maintenon, welche unter diesen Umständen die Schritte des Königs nicht ohne eine leichte Sorge vernommen hatte, beruhigte sich jetzt, da sie dem beschäftigten und unmerklich belustigten Ausdrucke der ihr gründlich bekannten königlichen Züge entnahm: Ludwig selbst habe etwas zu erzählen und zwar etwas Ergötzliches.
Dieser hatte das Fenster geschlossen und sich in einen Lehnstuhl niedergelassen. »Madame«, sagte er, »heute mittag hat mir Père Lachaise seinen Nachfolger, den Père Tellier gebracht.«
Père de Lachaise war der langjährige Beichtiger des Königs, welchen dieser, trotz der Taubheit und völligen Gebrechlichkeit des greisen Jesuiten, nicht fahrenlassen wollte und sozusagen bis zur Fadenscheinigkeit aufbrauchte; denn er hatte sich an ihn gewöhnt, und da er – es ist unglaublich zu sagen – aus unbestimmten, aber doch vorhandenen Befürchtungen seinen Beichtiger in keinem andern Orden glaubte wählen zu dürfen, zog er diese Ruine eines immerhin ehrenwerten Mannes einem jüngern und strebsamen Mitgliede der Gesellschaft Jesu vor. Aber alles hat seine Grenzen. Père Lachaise wankte sichtlich dem Grabe zu und Ludwig wollte denn doch nicht an seinem geistlichen Vater zum Mörder werden.
»Madame«, fuhr der König fort, »mein neuer Beichtiger hat keine Schönheit und Gestalt: eine Art Wolfsgesicht und dann schielt er. Er ist eine geradezu abstoßende Erscheinung, aber er wird mir als ein gegen sich und andere strenger Mann empfohlen, welchem sich ein Gewissen übergeben läßt. Das ist doch wohl die Hauptsache.«
»Je schlechter die Rinne, desto köstlicher das darin fließende himmlische Wasser«, bemerkte die Marquise erbaulich. Sie liebte die Jesuiten nicht, welche dem Ehebunde der Witwe Scarrons mit der Majestät entgegengearbeitet und kraft ihrer weiten Moral das Sakrament in diesem königlichen Falle für überflüssig erklärt hatten. So tat sie den frommen Vätern gelegentlich gern etwas zuleide, wenn sie dieselben im stillen krallen konnte. Jetzt schwieg sie und ihre dunklen mandelförmigen, sanft schwermütigen Augen hingen an dem Munde des Gemahls mit einer bescheidenen Aufmerksamkeit.
Der König kreuzte die Füße, und den Demantblitz einer seiner Schuhschnallen betrachtend, sagte er leichthin: »Dieser Fagon! Er wird unerträglich! Was er sich nicht alles herausnimmt!«
Fagon war der hochbetagte Leibarzt des Königs und der Schützling der Marquise. Beide lebten sie täglich in seiner Gesellschaft und hatten sich auf den Fall, daß er vor ihnen stürbe, Asyle gewählt, sie Saint-Cyr, er den botanischen Garten, um sich hier und dort nach dem Tode des Gebieters einzuschließen und zu begraben.
»Fagon ist Euch unendlich anhänglich«, sagte die Marquise.
»Gewiß, doch entschieden, er erlaubt sich zu viel«, versetzte der König mit einem leichten halb komischen Stirnrunzeln.
»Was gab es denn?«
Der König erzählte und hatte bald zu Ende erzählt. Er habe bei der heutigen Audienz seinen neuen Beichtiger gefragt, ob die Tellier mit den Le Tellier, der Familie des Kanzlers, verwandt wären? Doch der demütige Père habe dieses schnell verneint und sich frank als den Sohn eines Bauers in der untern Normandie bekannt. Fagon habe unweit in einer Fensterbrüstung gestanden, das Kinn auf sein Bambusrohr gestützt. Von dort, hinter dem gebückten Rücken des Jesuiten, habe er unter der Stimme, aber vernehmlich genug, hergeflüstert: »Du Nichtswürdiger!« »Ich hob den Finger gegen Fagon«, sagte der König, »und drohte ihm.«
Die Marquise wunderte sich. »Wegen dieser ehrlichen Verneinung hat Fagon den Pater nicht schelten können, er muß einen andern Grund gehabt haben«, sagte sie verständig.
»Immerhin, Madame, war es eine Unschicklichkeit, um nicht mehr zu sagen. Der gute Père Lachaise, taub wie er endlich doch geworden ist, hörte es freilich nicht, aber mein Ohr hat es deutlich vernommen, Silbe um Silbe. ›Niederträchtiger!‹ blies Fagon dem Pater zu, und der Mißhandelte zuckte zusammen.«
Die Marquise schloß lächelnd aus dieser Variante, daß Fagon einen derbern Ausdruck gebraucht habe. Auch in den Mundwinkeln des Königs zuckte es. Er hatte sich von jung an zum Gesetze gemacht, wozu er übrigens schon von Natur neigte und was er dann bis an sein Lebensende hielt, niemals, auch nicht erzählungsweise, ein gemeines oder beschimpfendes, kurz ein unkönigliches Wort in den Mund zu nehmen.
Der hohe Raum war eingedämmert, und wie der Bediente die traulichen zwei Armleuchter auf den Tisch setzte und sich rücklings schreitend verzog, siehe da wurde ein leise eingetretener Lauscher sichtbar, eine wunderliche Erscheinung, eine ehrwürdige Mißgestalt: ein schiefer, verwachsener, seltsam verkrümmter kleiner Greis, die entfleischten Hände unter dem gestreckten Kinn auf ein langes Bambusrohr mit goldenem Knopfe stützend, das feine Haupt vorgeneigt, ein weißes Antlitz mit geisterhaften blauen Augen. Es war Fagon.
»›Du Lump, du Schuft!‹ habe ich kurzweg gesagt, Sire, und nur die Wahrheit gesprochen«, ließ sich jetzt seine schwache, vor Erregung zitternde Stimme vernehmen. Fagon verneigte sich ehrfürchtig vor dem Könige, galant gegen die Marquise. »Habe ich einen Geistlichen in Eurer Gegenwart, Sire, dergestalt behandelt, so bin ich entweder der Niedertracht gegenüber ein aufbrausender Jüngling geblieben, oder ein würdiges Alter berechtigt, die Wahrheit zu sagen. Brachte mich nur das Schauspiel auf, welches der Pater gab, da sich der vierschrötige und hartknochige Tölpel mit seiner Wolfsschnauze vor Euch, Sire, drehte und krümmte und auf Eure leutselige Frage nach seiner Verwandtschaft in dünkelhafter Selbsterniedrigung nicht Worte genug fand, sein Nichts zu beteuern? ›Was denkt die Majestät?‹« – ahmte Fagon den Pater nach – »›Verwandt mit einem so vornehmen Herrn? Keineswegs! Ich bin der Sohn eines gemeinen Mannes! eines Bauern in der untern Normandie! eines ganz gemeinen Mannes! ...‹ Schon dieses nichtswürdige Reden von dem eigenen Vater, diese kriechende, heuchlerische, durch und durch unwahre Demut, diese gründliche Falschheit verdiente vollauf schuftig genannt zu werden. Aber die Frau Marquise hat recht: es war noch etwas anderes, etwas ganz Abscheuliches und Teuflisches, was ich gerächt habe, leider nur mit Worten: eine Missetat, ein Verbrechen, welches der unerwartete Anblick dieses tückischen Wolfes mir wieder so gegenwärtig vor das Auge stellte, daß die karge Neige meines Blutes zu kochen begann. Denn, Sire, dieser Bösewicht hat einen edeln Knaben gemordet!«
»Ich bitte dich, Fagon«, sagte der König, »welch ein Märchen!«
»Sagen wir: er hat ihn unter den Boden gebracht«, milderte der Leibarzt höhnisch seine Anklage.
»Welchen Knaben denn?« fragte Ludwig in seiner sachlichen Art, die kurze Wege liebte.
»Es war der junge Boufflers, der Sohn des Marschalls aus seiner ersten Ehe«, antwortete Fagon traurig.
»Julian Boufflers? Dieser starb, wenn mir recht ist«, erinnerte sich der König und sein Gedächtnis täuschte ihn selten, »17.. im Jesuitenkollegium an einer Gehirnentzündung, welche das arme Kind durch Überarbeitung sich mochte zugezogen haben, und da Père Tellier in jenen Jahren dort Studienpräfekt sein konnte, hat er allerdings, sehr figürlich gesprochen«, spottete der König, »den unbegabten, aber im Lernen hartnäckigen Knaben in das Grab gebracht. Der Knabe hat sich eben übernommen, wie mir sein Vater, der Marschall, selbst erzählt hat.« Ludwig zuckte die Achseln. Nichts weiter. Er hatte etwas Interessanteres erwartet.
»Den unbegabten Knaben ...« wiederholte der Arzt nachdenklich.
»Ja, Fagon«, versetzte der König, »auffallend unbegabt, und dabei schüchtern und kleinmütig, wie kein Mädchen. Es war an einem Marly-Tage, daß der Marschall, welchem ich für dieses sein ältestes Kind die Anwartschaft auf sein Gouvernement gegeben hatte, mir ihn vorstellte. Ich sah, der schmucke und wohlgebildete Jüngling, über dessen Lippen schon der erste Flaum sproßte, war bewegt und wollte mir herzlich danken, aber er geriet in ein so klägliches Stottern und peinliches Erröten, daß ich, um ihn nur zu beruhigen oder wenigstens in Ruhe zu lassen, mit einem: ›Es ist gut‹ geschwinder, als mir um seines Vaters willen lieb war, mich wendete.«
»Auch mir ist jener Abend erinnerlich«, ergänzte die Marquise. »Die verewigte Mutter des Knaben war meine Freundin und ich zog diesen nach seiner Niederlage zu mir, wo er sich still und traurig, aber dankbar und liebenswert erwies, ohne, wenigstens äußerlich, die erlittene Demütigung allzu tief zu empfinden. Er ermutigte sich sogar zu sprechen, das Alltägliche, das Gewöhnliche, mit einem herzgewinnenden Ton der Stimme, und – meine Nähe schaffte ihm Neider. Es war ein schlimmer Tag für das Kind, jener Marly. Ein Beiname, wie denn am Hofe alles, was nicht Ludwig heißt, den seinigen tragen muß« (die feinfühlige Marquise wußte, daß ihr gerades Gegenteil, die brave und schreckliche Pfälzerin, die Herzogin-Mutter von Orléans, ihr den allergarstigsten gegeben hatte), »einer jener gefährlichen Beinamen, die ein Leben vergiften können und deren Gebrauch ich meinen Mädchen in Saint-Cyr aufs strengste untersagt habe, wurde für den bescheidenen Knaben gefunden, und da er von Mund zu Munde lief, ohne viel Arg selbst von unschuldigen und blühenden Lippen gewispert, welche sich wohl dem hübschen Jungen nach wenigen Jahren nicht versagt haben würden.«
»Welcher Beiname?« fragte Fagon neugierig.
»›Le bel idiot‹ ... und das Zucken eines Paares hochmütiger Brauen verriet mir, wer ihn dem Knaben beschert hat.«
»Lauzun?« riet der König.
»Saint-Simon«, berichtigte die Marquise. »Ist er doch an unserm Hofe das lauschende Ohr, das spähende Auge, das uns alle beobachtet« – der König verfinsterte sich – »und die geübte Hand, die nächtlicherweile hinter verriegelten Türen von uns allen leidenschaftliche Zerrbilder auf das Papier wirft! Dieser edle Herzog, Sire, hat es nicht verschmäht, den unschuldigsten Knaben mit einem seiner grausamen Worte zu zeichnen, weil ich Harmlose, die er verabscheut, an dem Kinde ein flüchtiges Wohlgefallen fand und ein gutes Wort an dasselbe wendete.« So züngelte die sanfte Frau und reizte den König, ohne die Stirn zu falten und den Wohlklang ihrer Stimme zu verlieren.
»Der schöne Stumpfsinnige«, wiederholte Fagon langsam. »Nicht übel. Wenn aber der Herzog, der neben seinen schlimmen auch einige gute Eigenschaften besitzt, den Knaben gekannt hätte, wie ich ihn kennenlernte und er mir unvergeßlich geblieben ist, meiner Treu! der gallichte Saint-Simon hätte Reue gefühlt. Und wäre er wie ich bei dem Ende des Kindes zugegen gewesen, wie es in der Illusion des Fiebers, den Namen seines Königs auf den Lippen, in das feindliche Feuer zu stürzen glaubte, der heimliche Höllenrichter unserer Zeit – wenn die Sage wahr redet, denn niemand hat ihn an seinem Schreibtische gesehen – hätte den Knaben bewundert und ihm eine Träne nachgeweint.«
»Nichts mehr von Saint-Simon, ich bitte dich, Fagon«, sagte der König, die Brauen zusammenziehend. »Mag er verzeichnen, was ihm als die Wahrheit erscheint. Werde ich die Schreibtische belauern? Auch die große Geschichte führt ihren Griffel und wird mich in den Grenzen meiner Zeit und meines Wesens läßlich beurteilen. Nichts mehr von ihm. Aber viel und alles, was du weißt, von dem jungen Boufflers. Er mag ein braver Junge gewesen sein. Setze dich und erzähle!« Er deutete freundlich auf einen Stuhl und lehnte sich in den seinigen zurück.
»Und erzähle hübsch bequem und gelassen, Fagon«, bat die Marquise mit einem Blick auf die schmucken Zeiger ihrer Stockuhr, welche zum Verwundern schnell vorrückten.
»Sire, ich gehorche«, sagte Fagon, »und tue eine untertänige Bitte. Ich habe heute den Père Tellier in Eurer Gegenwart mißhandelnd mir eine Freiheit genommen und weiß, wie ich mich aus Erfahrung kenne, daß ich, einmal auf diesen Weg geraten, an demselben Tage leicht rückfällig werde. Als Frau von Sablière den guten – oder auch nicht guten – Lafontaine, ihren Fabelbaum, wie sie ihn nannte, aus dem schlechten Boden, worein er seine Wurzeln gestreckt hatte, ausgrub und wieder in die gute Gesellschaft verpflanzte, willigte der Fabeldichter ein, noch einmal unter anständigen Menschen zu leben, unter der Bedingung jedoch, jeden Abend das Minimum von drei Freiheiten – was er so Freiheiten hieß – sich erlauben zu dürfen. In ähnlicher und verschiedener Weise bitte ich mir, soll ich meine Geschichte erzählen, drei Freiheiten aus –«
»Welche ich dir gewähre«, schloß der König.
Drei Köpfe rückten zusammen: der bedeutende des Arztes, das olympische Lockenhaupt des Königs und das feine Profil seines Weibes mit der hohen Stirn, den reizenden Linien von Nase und Mund und dem leicht gezeichneten Doppelkinne.
»In den Tagen, da die Majestät noch den größten ihrer Dichter besaß«, begann der Leibarzt, »und dieser, während schon der Tod nach seiner kranken Brust zielte, sich belustigte, denselben auf der Bühne nachzuäffen, wurde das Meisterstück: ›Der Kranke in der Einbildung‹ auch vor der Majestät hier in Versailles aufgeführt. Ich, der ich sonst eine würdige mit Homer oder Virgil verlebte Stunde und den Wellenschlag einer antiken Dichtung unter gestirntem Himmel den grellen Lampen und den verzerrten Gesichtern der auf die Bühne gebrachten Gegenwart vorziehe, ich durfte doch nicht wegbleiben, da wo mein Stand verspottet und vielleicht, wer wußte, ich selbst und meine Krücke« – er hob sein Bambusrohr, auf welches er auch sitzend sich zu stützen fortfuhr – »abbildlich zu sehen waren. Es geschah nicht. Aber hätte Molière mich in einer seiner Possen verewigt, wahrlich, ich hätte es dem nicht verargen können, der sein eigenes schmerzlichstes Empfinden komisch betrachtet und verkörpert hat. Diese letzten Stücke Molières, nichts geht darüber! Das ist die souveräne Komödie, welche freilich nicht nur das Verkehrte, sondern in grausamer Lust auch das Menschlichste in ein höhnisches Licht rückt, daß es zu grinsen beginnt. Zum Beispiel, was ist verzeihlicher, als daß ein Vater auf sein Kind sich etwas einbilde, etwas eitel auf die Vorzüge, und etwas blind für die Schwächen seines eigenen Fleisches und Blutes sei? Lächerlich freilich ist es und fordert den Spott heraus. So lobt denn auch im Kranken in der Einbildung der alberne Diaforius seinen noch alberneren Sohn Thomas, einen vollständigen Dummkopf. Doch die Majestät kennt die Stelle.«
»Mache mir das Vergnügen, Fagon, und rezitiere sie mir«, sagte der König, welcher, seit Familienverluste und schwere öffentliche Unfälle sein Leben ernst gemacht, sich der komischen Muse zu enthalten pflegte, dem die Lachmuskeln aber unwillkürlich zuckten in Erinnerung des guten Gesellen, den er einst gern um sich gelitten und an dessen Masken er sich ergötzt hatte.
»›Es ist nicht darum‹«, spielte Fagon den Doctor Diaforius, dessen Rolle er seltsamerweise auswendig wußte, »›weil ich der Vater bin, aber ich darf sagen, ich habe Grund, mit diesem meinem Sohne zufrieden zu sein, und alle, die ihn sehen, sprechen von ihm als von einem Jüngling ohne Falsch. Er hat nie eine sehr tätige Einbildungskraft, noch jenes Feuer besessen, welches man an einigen wahrnimmt. Als er klein war, ist er nie, was man so heißt, aufgeweckt und mutwillig gewesen. Man sah ihn immer sanft, friedselig und schweigsam. Er sprach nie ein Wort und beteiligte sich niemals an den sogenannten Knabenspielen. Man hatte schwere Mühe ihn lesen zu lehren, und mit neun Jahren kannte er seine Buchstaben noch nicht. Gut, sprach ich zu mir, die späten Bäume tragen die besten Früchte, es gräbt sich in den Marmor schwerer als in den Sand‹ ... und so fort. Dieser langsam geträufelte Spott wurde dann auf der Bühne zum gründlichen Hohn durch das unsäglich einfältige Gesicht des Belobten und zum unwiderstehlichen Gelächter in den Mienen der Zuschauer. Unter diesen fand mein Auge eine blonde Frau von rührender Schönheit und beschäftigte sich mit den langsam wechselnden Ausdrücken dieser einfachen Züge: zuerst demjenigen der Freude über die gerechte Belobung eines schwer, aber fleißig lernenden Kindes, so unvorteilhaft der Jüngling auf der Bühne sich ausnehmen mochte, dann dem andern Ausdrucke einer traurigen Enttäuschung, da die Schauende, ohne jedoch recht zu begreifen, innewurde, daß der Dichter, der es mit seinen schlichten Worten ernst zu meinen schien, eigentlich nur seinen blutigen Spott hatte mit der väterlichen Selbstverblendung. Freilich hatte Molière, der großartige Spötter, alles so naturwahr und sachlich dargestellt, daß mit ihm nicht zu zürnen war. Eine lange und mühsam verhaltene, tief schmerzliche Träne rollte endlich über die zarte Wange des bekümmerten Weibes. Ich wußte nun, daß sie Mutter war und einen unbegabten Sohn hatte. Das ergab sich für mich aus dem Geschauten und Beobachteten mit mathematischer Gewißheit.
Es war die erste Frau des Marschalls Boufflers.«
»Auch wenn du sie nicht genannt hättest, Fagon, ich erkannte aus deiner Schilderung meine süße Blondine«, seufzte die Marquise. »Sie war ein Wunder der Unschuld und Herzenseinfalt, ohne Arg und Falsch, ja ohne den Begriff der List und Lüge.«
Die Freundschaft der zwei Frauen, welche der Marquise einen so rührenden Eindruck hinterließ, war eine wahre und für beide Teile wohltätige gewesen. Frau von Maintenon hatte nämlich in den langen und schweren Jahren ihres Emporkommens, da die still Ehrgeizige mit zähester Schmiegsamkeit und geduldigster Konsequenz, immer heiter, überall dienstfertig, sich einen König und den größten König der Zeit eroberte, mit ihren klugen Augen die arglose Vornehme von den andern ihr mißgünstigen und feindseligen Hofweibern unterschieden und sie mit ein paar herzlichen Worten und zutulichen Gefälligkeiten an sich gefesselt. Die beiden halfen sich aus und deckten sich einander mit ihrer Geburt und ihrem Verstand.
»Die Marschallin hatte Tugend und Haltung«, lobte der König, während er einen in seinem Gedächtnis auftauchenden anmutigen Wuchs, ein liebliches Gesicht und ein aschenblondes Ringelhaar betrachtete.
»Die Marschallin war dumm«, ergänzte Fagon knapp. »Aber wenn ich Krüppel je ein Weib geliebt habe – außer meiner Gönnerin«, er verneigte sich huldigend gegen die Marquise, »und für ein Weib mein Leben hingegeben hätte, so war es diese erste Herzogin Boufflers.
Ich lernte sie dann bald näher kennen, leider als Arzt. Denn ihre Gesundheit war schwankend und alle diese Lieblichkeit verlosch unversehens wie ein ausgeblasenes Licht. Wenige Tage vor ihrem letzten beschied sie mich zu sich und erklärte mir mit den einfachsten Worten von der Welt, sie werde sterben. Sie fühlte ihren Zustand, den meine Wissenschaft nicht erkannt hatte. Sie ergebe sich darein, sagte sie, und habe nur eine Sorge: die Zukunft und das Schicksal ihres Knaben. ›Er ist ein gutes Kind, aber völlig unbegabt, wie ich selbst es bin‹, klagte sie mir bekümmert, aber unbefangen. ›Mir ward ein leichtes Leben zuteil, da ich dem Marschall nur zu gehorchen brauchte, welcher nach seiner Art, die nichts aus den Händen gibt, auch wenn ich ein gescheites Weib gewesen wäre, außer dem einfachsten Haushalte mir keine Verantwortung überlassen hätte – du kennst ihn ja, Fagon, er ist peinlich und regiert alles selber. Wenn ich in der Gesellschaft schwieg oder meine Rede auf das Nächste beschränkte, um nichts Unwissendes oder Verfängliches zu sagen, so war ihm das gerade recht, denn eine Witzige oder Glänzende hätte ihn nur beunruhigt. So bin ich gut durchgekommen. Aber mein Kind? Der Julian soll als der Sohn seines Vaters in der Welt eine Figur machen. Wird er das können? Er lernt so unglaublich schwer. An Eifer läßt er es nicht fehlen, wahrlich nicht, denn es ist ein tapferes Kind ... Der Marschall wird sich wieder verheiraten, und irgendeine gescheite Frau wird ihm anstelligere Söhne geben. Nun möchte ich nicht, daß der Julian etwas Außerordentliches würde, was ja auch unmöglich wäre, sondern nur, daß er nicht zu harte Demütigungen erleide, wenn er hinter seinen Geschwistern zurückbleibt. Das ist nun deine Sache, Fagon. Du wirst auch zusehen, daß er körperlich nicht übertrieben werde. Laß das nicht aus dem Auge, ich bitte dich! Denn der Marschall übersieht das. Du kennst ihn ja. Er hat den Krieg im Kopf, die Grenzen, die Festungen ... Selbst über der Mahlzeit ist er in seine Geschäfte vertieft, der dem König und Frankreich unentbehrliche Mann, läßt sich plötzlich eine Karte holen, wenn er nicht selbst danach aufspringt, oder ärgert sich über irgendeine vormittags entdeckte Nachlässigkeit seiner Schreiber, welchen man bei der um sich greifenden Pflichtvergessenheit auch nicht das Geringste mehr überlassen dürfe. Geht dann durch einen Zufall ein Täßchen oder Schälchen entzwei, vergißt sich der Reizbare bis zum Schelten. Gewöhnlich sitzt er schweigend oder einsilbig zu Tische, mit gerunzelter Stirn, ohne sich mit dem Kinde abzugeben, das an jedem seiner Blicke hängt, ohne sich nach seinen kleinen Fortschritten zu erkundigen, denn er setzt voraus: ein Boufflers tue von selbst seine Pflicht. Und der Julian wird bis an die äußersten Grenzen seiner Kräfte gehen ... Fagon, laß ihn keinen Schaden leiden! Nimm dich des Knaben an! Bring ihn heil hinweg über seine zarten Jahre! Mische dich nur ohne Bedenken ein. Der Marschall hält etwas auf dich und wird deinen Rat gelten lassen. Er nennt dich den redlichsten Mann von Frankreich ... Also du versprichst es mir, bei dem Knaben meine Stelle zu vertreten ... Du hältst Wort und darüber hinaus ...‹
Ich gelobte es der Marschallin und sie starb nicht schwer.
Vor dem Bette, darauf sie lag, beobachtete ich den mir anvertrauten Knaben. Er war aufgelöst in Tränen, seine Brust arbeitete, aber er warf sich nicht verzweifelnd über die Tote, berührte den entseelten Mund nicht, sondern er kniete neben ihr, ergriff ihre Hand und küßte diese, wie er sonst zu tun pflegte. Sein Schmerz war tief, aber keusch und enthaltsam. Ich schloß auf männliches Naturell und früh geübte Selbstbeherrschung und betrog mich nicht. Im übrigen war Julian damals ein hübscher Knabe von etwa dreizehn Jahren, mit den seelenvollen Augen seiner Mutter, gewinnenden Zügen, wenig Stirn unter verworrenem blonden Ringelhaar und einem untadeligen Bau, der zur Meisterschaft in jeder Leibesübung befähigte.
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 252 ff.
Der Text ist entweder gemeinfrei oder wurde vom Autor/Verlag zur Verfügung gestellt.Bei rechtlichen Bedenken melden Sie sich bitte beim Team von Kritikatur.
Der Text ist entweder gemeinfrei oder wurde vom Autor/Verlag zur Verfügung gestellt.Bei rechtlichen Bedenken melden Sie sich bitte beim Team von Kritikatur.
nicht mehr lieferbar
Linktipp: »1883« als Erscheinungsjahr haben auch
- Die Schatzinsel (Robert Louis Stevenson)
- Die Abenteuer von Pinocchio (Carlo Collodi)
- Schach von Wuthenow (Theodor Fontane)
- Das Paradies der Damen (Emile Zola)
- Der Jäger von Fall (Ludwig Ganghofer)