Literarisches Werk




Übersicht


Originalsprache : Deutsch
Stichwort : Novelle

Kurzbeschreibung


»Vignetten« ist eine Erzählung von A. J. Weigoni. 2009 wurde das literarische Werk zuerst veröffentlicht.

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Alles im Fluß
„Flüsse“, ist bei Vladimir Nabokov zu lesen, „sind wie Seelen – so grundverschieden, daß wir für jeden Fluß eine andere Sprache entwickeln müßten.“ Bedruckte Papierseiten entsprechen dem menschlichen Lesetempo, unserem Rhythmus. Diesem Rhythmus folgen A.J. Weigonis »Vignetten«, indem sie die Wellenbewegungen des Rheins denen des Nils gegenüberstellen und setzen sie um in Wellenbewegungen des Flusses, des Lichts und der Gedanken. Weigoni pflegt die Form der Langzeitbeobachtung, er zeigt sich mit den »Vignetten« auf der Höhe seiner Kunst.




Faszination der Literaturgattung Novelle
Satz für Satz bewährt sich diese Novelle als Sprachkunstwerk. „Das seltsame Verhältnisspiel der Dinge“, von dem Novalis spricht, ist diesem Autor nicht unbekannt. Ein Subtext der Sehnsucht und der Katastrophen zieht sich durch die Novelle. Weigoni wählt eine gebrochene Perspektive, um dem Leser das Leben von Nataly und Max in ihrer Fremdheit nahe zu bringen, aber er handhabt sie so virtuos, daß man ihr Raffinement gar nicht bemerkt. Diese Poesie liefert Beispiele für Weltzusammenhänge zwischen Rhein und Nil, sie kann die Fülle der real vorhandenen Dinge aber auch übertreffen. Die offene Struktur seiner Poesie weist darauf hin, daß die Dinge dazu neigen, sich irgendwann aufzulösen. Der Tod ist ebenso sein Thema wie das Leben.

In der Literaturwissenschaft bezeichnet man Vignetten als impressionistische, meist kurze Szenen, die auf einen Moment fokussieren oder einen Eindruck über eine Figur, eine Idee oder einen Ort vermitteln. Diese Vignetten finden sich insbesondere bei Theaterstücken und Drehbüchern, aber auch in narrativen Texten wie beispielsweise bei Hemingways »In Our Time«. Die Abfolge dieser »Vignetten« unterliegt der geschlossenen Form, es ist eine straffe, überwiegend einlinige Handlungsführung, ein gezielter Einsatz szenischer, filmschnittartiger Partien an den Höhepunkten. Weigonis »Vignetten« grenzen an lyrische Formen, die ins Prosaische ausufern. Die Sprache seiner Literatur bietet einen Zufluchtsort, ein Reich der Imagination, eine Utopie jenseits der Wirklichkeit.

Der Falkentheorie Paul Heyses wird in der Nekropolen–Vignette eine Referenz erwiesen. Die alten Ägypter glaubten nicht an eine ewige Dauer des Kosmos. Sie sahen eine Zeit kommen, da der Schöpfer seiner Schöpfung müde werden würde und zusammen mit ihr ins Nichts zurücksänke, danach begänne der Schöpfungszyklus von vorn. Für die Ägypter fiel das Ende der Menschheitsgeschichte mit dem Anfang zusammen. Nachdem das Bild der ersten Vignette sich in der letzten Vignette als Sehnsuchtsbild einlöst, wird die Zukunft der Figuren Nataly und Max lediglich angedeutet.

Diese »Vignetten« sind eine konzentrierte, kluge Erzählung voller Wahrheit, mit glücklichen Einschüssen von Schmerz und Leidenschaft, von Melancholie und Wut; und auch ganz, wie solche Vorfälle, erzählt, dann sein müssen: über allen Zufall hinaus völlig einmalig und individuell und über alles Individuelle hinaus wunderschön musterhaft, wie Johann Wolfgang von Goethe das genannt hätte.

Ut pictura poesis erit. In den ästhetischen Debatten der letzten Zeit kehrt verdächtig häufig eine berühmte Sentenz wieder. Sie entstammt der Regelpoetik des Horaz. Damit meinte der antike Dichter, daß die Dichtung "wie Malerei" auf den Leser zu wirken habe. Als "stumme Poesie" oder "beredte Malerei" gehörten in der Antike Kunst und Literatur so untrennbar zusammen wie einst Mann und Frau in Platons Urwesen, bis Gott die beiden Unbotmäßigen in zwei Teile auseinanderhieb.

Vokale und tonale Umsetzung der Novelle

"Akustische Maske" nannte Elias Canetti das Prinzip, Figuren durch ihre Sprache plastisch werden zu lassen. A.J. Weigoni spürt der Sprache in den »Vignetten« vor allem als akustischem Phänomen nach. Dieser Sprechsteller gibt der Sprache einen Körper, verleiht ihr Gestalt und Kontur, er gehört damit zu den Poeten, die nicht nur Text, sondern Klang produzieren; seine Stimmführung ist nahezu Musik. Unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Weigoni verfügt über eine schattierungsfähige Stimme, die viele Zwischentöne kennt. Auf eine sensible Art spröde. Sanft und energisch. Warm und weich. Rauh und klar.

Bei Weigoni sind Selbstironie und aufrichtiger Affekt eben kein Widerspruch, philosophischer Ernst findet sich mit abgründigem Witz verpaart, und Raffinesse und pophistorische Reflektiertheit paaren sich mit der Komplexität eines Gedichts. Roland Barthes hat geschrieben, daß es keine menschliche Stimme auf der Welt gebe, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder eben des Abscheus. Es gibt keine Stimme, zu der wir uns neutral verhalten können: Entweder wir lieben sie oder nicht, entweder wir ertragen sie oder wir reagieren idiosynkratisch. Was fasziniert, ist etwas sehr Konkretes: Wörter, Wortgruppen, bestimmte Zusammenstellungen, in bestimmter Perspektive ausgewählte Sprachkombinationen.

Weigoni interessiert der Einklang der Vokale, Konsonanten und mehrwortigen Verbindungen, das durch vokabuläre Zusammenfügung hergestellte künstliche Bild. Das Mondäne vereinigt sich mit dem Musikalischen, der Intellekt mit dem Sinnlichen. Seine Stimme erzeugt eine atemberaubende Intimität. Sie ist weich und schwingend wie der Körper einer Katze, und sie kann kalt leuchten wie Mondschein. Aber vor allem ist sie groß, wenn er leise spricht. Dann bricht sie manchmal und zeigt raue Stellen; sie entzieht sich in Momenten der Heiserkeit, um dann um so schöner wiederzukommen. Nicht nur als Sammler von Sprachblüten ist er eine Gelehrtennatur von idealistischem Fleiß und positivistischem Systemdrang, man muß vor seinem polemischen Talent auf der Hut sein. Die geschriebene Sprache ist immer eine Metapher für die gesprochene. Je "echter" sie klingt, desto weiter entfernt ist sie in Wahrheit von der Umgangssprache. In »Vignetten« transportieren sich die Wellenbewegungen der Flüsse Rhein und Nil in sinnlich geschwungene Bögen des Gesprochenen. Hier wird die Dialektik einer beschwörenden Sprachmagie sinnfällig.

Aus einem musikalischen Einfall heraus entwickelt Tom Täger ein 24teiliges Stück. Der Hörspielkomponist verarbeitet das Thema dabei unterschiedlich, in Sequenzen, Transpositionen und Diminutionen kommen seine Inventionen zu den Vignetten daher. Kontraste sind für Tom Täger selbstverständlich, die schwelgerische Melancholie gedeiht direkt neben krassen Dissonanzen, und die Intensität des Schrillen verstärkt diejenige des Stillen. Seine Komposition lebt von Polymetriken und Polyphonien.

Die Vertonung Tägers fügt sie – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führte an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Oft gibt es das Missverständnis, Energie gleich Lautstärke. Intensität steckt auch in extrem ruhiger und gleichförmig fließender Energie, quasi im Nichts. In der Hörspielmusik dieses Soundtüftlers gibt es extrem leise Stellen. Und trotzdem ist da unentwegt ein Energiefluss spürbar, es brodelt etwas.

Die Literaturgattung Novelle wird neu definiert

Die Geschichte der Literatur ist eine Geschichte der Verweigerung, die Verweigerung der Dichtung, sich Erwartungen und Vorgaben unterzuordnen, und die Weigerung, Widerspenstige wie A.J. Weigoni in die Hallen des literarischen Kanons einzulassen, durch die einsam Thomas Mann west. Als Schriftsteller empfindet Weigoni den enormen Abstand zwischen künstlerischer Wahrheit und der Notwendigkeit, diese Wahrheit fürs Publikum ansprechend zu verpacken, um überhaupt gehört zu werden. Über viele wesentliche Dinge im Leben entscheidet der Zufall.

In der Literaturgeschichte kann man sich keinesfalls auf Zwangsläufigkeiten verlassen. Kein Dichter, keine Autorin wird zwangsläufig entdeckt oder übersetzt. Stets gehören persönliche Initiative, verlegerischer Mut und Spürsinn und ein gerüttelt Maß an glücklichen Umständen dazu, damit ein Werk von großer, aber nicht unbedingt mainstreamglatter Schönheit dem Vergessen entrissen und in einen anderen Sprach– und Kulturraum transportiert werden kann. Wer A. J. Weigonis Arbeiten aus den letzten Jahren kennt, ist mit seiner sinnlichen, den Gegenstand umkreisenden, dann bestimmt zupackenden Sprache vertraut.

Man erinnert sich an seinen wie beiläufig klingenden Umgang mit biblischen und mythologischen Anspielungen, kennt diesen ganz besonderen, mit fingierter Naivität anhebenden, dann in Traumbildern von großer Plastizität ausschweifenden, stark rhythmisierten Erzählton, der seine volle Kraft im Augenblick des Schocks entfaltet, wenn plötzlich – in einer Geste, einem Bild oder in einer kurzen, abrupten Formel – der Abgrund erkennbar wird, aus dem er seine Protagonisten für Momente ans Licht zieht.

Wie in anderen Geschichten führt dieser Abgrund auch in den »Vignetten« in die triebhaften Tiefen einer von Sprachlosigkeit, existenzieller Not und dumpfen, übermächtigen Zwängen beherrschten Welt. In dieser Prosafolge lebt A. J. Weigoni seinen narrativen Reichtum lässig aus. Sein Erzählton macht kein Aufhebens, er betreibt – und das macht den besonderen Charme der Geschichten aus – eine Art buchhalterisches Understatement. Das Schweigen hat einen weiten Echoraum in Weigonis' Schaffen, die eigentümliche Spannung von Weigonis Novelle ergibt sich kaum aus ihrer Fabel, sondern wesentlich aus der Ökonomie des Erzählens, einer kammermusikalischen Genauigkeit und Diskretion.

In gleichmäßig zügigem Tempo, ohne Verweilen, ohne Luftholen gehen die Ereignisse voran. Jeder Satz ist eine kleine Überraschung. Hier entsteht das Geflecht der Leitmotive und Dingsymbole wie von selbst aus der Aufmerksamkeit für die realistischen Details. Die Hauptfiguren Nataly und Max sind tief ergriffen von der realen Gegenwart, dem Gefühl, daß alle Zeiten nur eine sind, daß sie in allen leben und alle in ihnen. Wie der Rhein in Caput I „Mäander“ unmerklich zum Bedeutungsraum wird, so im 2. Kapitel „uräus“ der Nil.
Dieses Mäandern ist eine Form zwischen Polen suchender Schreibart, die dialogisch von Assoziation zu Assoziation Erkenntnisse produziert. Worin die "unerhörte Begebenheit" liegt, welche diese Novelle nach Goethes Definition zu einer solchen macht, erfährt man erst auf den letzten Seiten. Mit dem Wünschelruten–Blick des Schatzsuchers laufen Nataly und Max über den Wüstensand und nehmen die Erschütterungen und Blessuren auf, die die Verheerungen der Geschichte diesen alten Landstrichen zugefügt haben. Im Rhythmus der Schritte erschließt sich ihnen der Geist dieser Landschaft, gleichsam das Versmaß der sie umgebenden Dinge. Es sind die im Wortsinne elementaren Gewalten, die das Leben bestimmen – aber erzählerisch zurückgenommen ins Kleinformat des Alltäglichen. Daß jedes Ding in dieser erzählten Welt über sich hinausweisen kann, verdankt sich gerade der Sorgfalt, mit der sie alle dem Realitätseffekt dienen.

Weigoni hat eine Liebesgeschichte geschrieben, die nicht durch einen Kuß besiegelt werden muß. Unauffällig und früh sind die Signale gesetzt, diese novellistische Flußfahrt umsegelt die Scylla des Pathetischen ebenso sicher wie die Charybdis der Sentimentalität; diese verdankt sich der Sparsamkeit der erzählerischen Mittel und dem weiten Horizont, in den hinein dieses Erzählen sich öffnet. Meisterhaft ist sie in einem ganz handwerklichen Sinne. Und eben deshalb erreicht sie so sicher jenen Punkt, an dem die stupende Präzision der pièce bien faite umschlagen kann in die Magie des Geschichtenerzählens. Mit Ossip Mandelstam gesagt: Poesie ist Ausbruch von Energie und ein Luxus, aber ein notwendiger. A.J. Weigoni ist in diesem Sinne ein luxurierender Schriftsteller.

Bei A. J. Weigoni entsteht das Schreiben aus sprachlicher Verdichtung, seine Novelle ist eine bewegende Hommage an das Leben in und aus der Möglichkeitsform: das Lesen. Seine gleichsam magische Begabung liegt darin, sich alles, wofür er Worte findet, spontan anverwandeln zu können. In seiner semantischen Mehrschichtigkeit zeigt er zugleich exemplarisch, was ihn als Prosa–Autor so heraushebt: eine poetische Genauigkeit und doch Offenheit der Sprache, die bewirkt, daß sich jedem einzelnen Wort hinterher lauschen läßt, als enthalte es eine ganze Welt.

Folgen viele solcher Worte aufeinander, entsteht etwas, das am ehesten als eine Art assoziativer Klangraum bezeichnet werden könnte, ein schwer zu fassendes Phänomen, das eng mit der offensten aller Künste, der Musik, verwandt ist. Lese–Musik im Kopf. Seltener als man glauben möchte, gibt es unter Schriftstellern jene Solitäre, die vor allem ihrer inneren Stimme folgen und auf deren Werk der Markt und seine Moden oder die Eigenbewegung der Kunst nur wenig Einfluß haben. Manche werden berühmt, andere kommen und gehen weitgehend unbemerkt.

Das Projekt »Vignetten« ist eine Langzeitbeobachtung intermedialer Wechselwirkungen, es schafft ein Gefühl für individuelle Tragödien, die nicht durchs Visuelle geprägt sind, sondern durch Verhältnisse, Spannungen, Energieverschiebungen und Differenzen, durch die Domänen der Sprache und der Kunst. Hier kann man begreifen, daß das Gedicht von der Rose nicht gilt: Der Rhein ist nicht der Nil ist kein Rinnsal. Die Dingwelt lebt – und zwar gerade in ihrer höchst vergänglichen Einmaligkeit.



Kurzkritiken


     
anspruchsvoll, bereichernd, erhebend



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