Literarisches Werk
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Kurzbeschreibung
»Gedichte« ist eine Gedichtsammlung von A. J. Weigoni. 2015 wurde das literarische Werk zuerst veröffentlicht.
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Das lyrische Gesamtwerk des Sprechstellers
Das zu Beginn des Jahres 2015 in der Edition Das Labor erscheinende HörBuch Gedichte faßt die langjährige Studioarbeit von Tom Täger und A.J. Weigoni einerseits zusammen, gibt aber auch einen Ausblick auf das nächste Buch. Die am 18. Januar 2015 erscheinenden Schmauchspuren sind ein erneuter Beweis der sich immer noch steigernden Gedankenschärfe und Ausdruckskraft dieses Poeten. Weigonis Gedichte sind konzentrierte Miniaturen, seine verdichtete Sprache bildet ein System, das sich aus dem Leben bezieht und in dieses zurückwirkt. Wie Blaise Pascal sieht dieser Lyriker das menschliche Leben als kurzes Aufscheinen zwischen dunklen, leeren Ewigkeiten. Diese Gedichte leben aus dieser Spannung: der Gewissheit des Todes als schwarzem Hintergrund und der fast grell beleuchteten Gegenwart des 21. Jahrhundert im Vordergrund. Diese Sinnlichkeit und Gegenwärtigkeit übersieht, wer Weigonis Gedichte als bloße Gedankenlyrik mißversteht.
Porträt eines Ohryeurs – A.J. Weigoni zum 50.
A.J. Weigoni erlag der Faszination des Mediums Radio in seinen Kindertagen, als der Rundfunk zu einem Zauberinstrument des Wortes wurde, zur akustischen Probebühne der Poesie, zum Atem der Vernunft. Er saß vor einem Rundfunkempfänger mit „Tigerauge“ wie vor einer Kultstätte und vergaß, als er vor dem Lautsprecher saß, die Apparaturen und Stationen. Das Medium Radio erlebte er als zauberhaft und seine Unmittelbarkeit als bestechend. Wenn er den Empfang optimieren wollte, mußte er nur geradewegs ins magische Auge des Empfangsgeräts schauen, das aufging oder sich schloss, wie eine sogenannte Abstimmanzeigeröhre, welche die Stärke des Signals veranschaulichte. Der Himmel war nicht nur der Himmel der Erde, sondern auch das Firmament der Kunst.
Jens Pacholsky: Wann haben Sie zum ersten Mal bemerkt, daß Sie der Sprache verfallen sind?
A.J. Weigoni: Als ‚I-Dötzchen’ mußte ich in der Schule den ersten Satz meines Lebens schreiben: „Heiner ist weg.“ Mir war es völlig rätselhaft, wer dieser Heiner war und wohin er verschwunden ist. Möglicherweise liegt darin der Sinn von Poesie, zu beschwören, was abhanden gekommen ist oder wir erforschen wollen. Schreiben ist, so besehen, eine Art von Wiederaneignung der Welt. Poesie entdeckt Wirklichkeiten außerhalb der Wirklichkeit, sie wird damit zu einem ein Echo der Realität, daß unsere Seele erklingen läßt.
Schriftsteller versuchen oft, aus den ersten Lebensjahren eine Hölle zu machen und eine Kindheit zu konstruieren, die zu ihrem Selbstbild paßt. Auch Rilkes Kindheit war längst nicht so schlimm, wie der Mythos behauptet, den er später schuf. Und doch ist es die Kindheit, die Weigonis lebenslanges Aufbegehren gegen die Autoritäten eingepflanzt hat, die Zeit, aus der sich sein Schreiben speist, wie aus einer lebenslangen Trotzphase. Die Zeit ist zu kurz, um viel an Biographischem aufzuarbeiten. Außerdem besteht das Leben eines Schriftstellers aus dem, was er schreibt. Als er sich dem Schreiben widmete, ahnte Weigoni nicht, welche Zähigkeit er würde aufbringen müssen, um den Glauben an sich nicht zu verlieren. Jahrelang kamen seine Manuskripte regelmäßig zurück, er aber schrieb unverdrossen weiter, schrieb Gedichte, Hörspiele und Prosatexte. Seine Arbeiten gelten als ‚schwierig’, als anspielungsreich und subtil, nicht eben Eigenschaften, die im verflachenden Literaturbetrieb angesagt sind. Er ist immer die langen Wege gegangen, seine kritische Stoßrichtung braucht einen etwas entfernteren Standpunkt, um ihre Wirkung voll zu entfalten. Weigoni hat seinen Beruf in jahrzehntelanger Anstrengung erlernt, was ihm gelungen ist und was mißglückt, das weiß er besser als beamtete Besserwisser. Dieses System kann ohne seine Reservate ästhetischer Zähigkeit, Widerständigkeit und Wachheit nicht überleben. Seine geistige Heimat ist dort, wo das denkerische Wort poetisch durchtränkt ist und das poetische Wort durchdacht ist. Wenn den Figuren-Texten der Antike noch mystische Motive unterstellt werden können, ist für die meisten Texte des Barock wahrscheinlich der menschliche Spieltrieb verantwortlich, selbst die so genannten ‚konkreten’ und ‚visuellen’ Poesien erschließen sich so am ehesten. Seitdem ist eine Generation vergangen, doch wer könnte behaupten, die Mehrzahl der Vertreter deutscher Hochsprache seien weniger ehrenwert, bürgerlich-bieder, angepaßt und grundsolide? Nach den abseitigen Ausnahmegestalten muß man lange suchen, sie werden entweder vom Markt aufgesogen oder verschwinden lautlos in den Ritzen der Ewigkeit, die das Vergessen meint. A.J. Weigoni gehört zu den meistunterschätzten Lyrikern, sein Schaffen erzeugt eine Poesie, die von der Rezeption das Äußerste an Selbstpreisgabe verlangt. Oft wird im Literaturbetrieb übersehen, daß gerade aus solcher Herausforderung die Subjektivität des– oder derjenigen, der oder die sich auf diese Kunstwerke eingelassen hat, sich auf Dauer verändert – die Wahrnehmungsfähigkeit, die Weltsicht, das Zulassen von Gefühlen. Weigoni sieht sein Schaffen immer in gesellschaftlichen Zusammenhängen, denkt nach über die kulturellen Aufladungen beziehungsweise Vorwegbestimmungen des lyrischen Materials – Tonalität, Körperlichkeit, Struktur und Aura.
„Wenn es Videoclips gibt, muß auch die Literatur auf die veränderten medialen Verhältnisse reagieren“, proklamierte Weigoni Anfang der 1990er Jahre. Was er damit neu definierte, war der Punkt der Inspiration, der notwendig war, wenn man Literatur machen will. Vor dem Geschriebenen kommt bei allen Menschen das Gesprochene, das mündlich Erzählte. So besitzt jeder, der die alte Kulturtechnik des Lesens erlernt hat, Vorerfahrungen, die das spätere, in der Regel stille Lesen dann gewissermaßen grundieren. Hieran können Hörbücher bereichernd anknüpfen. Als er versuchte mit seiner ersten CD (beim Punklabel Constrictor) einen Markt für Hörbücher zu erschließen, hat man ihn für verrückt erklärt. Als Tom Täger die erste LP mit Helge Schneider (Seine größten Erfolge) produzierte, hat man ihn für verrückt erklärt. Wahrend der Buchmarkt stagniert, generiert das Marktsegment "Hörbuch" im Literaturbetrieb seit Jahren zweistellige Wachstumsraten. Als Medienautor ist Weigoni ein Denkspieler, den die technischen Entwicklungen der Medien faszinieren, weil sie schier unendliche Möglichkeiten der Neuordnung von Formen und Zeichen eröffnen. Auf die Anforderungen der Neuen Medien reagiert er als experimentierender Analytiker und analytischer Experimentierer. Das Spielen ist ihm der Königsweg zum Verständnis der Neuen Medien. Computer, Studios und Software sind keine Werk–, sondern Spielzeuge, wobei die traditionellen Medien als Navigationshilfen dienen.
Jens Pacholsky: Was motiviert Sie immer wieder, die Projekte in die Welt zu setzen und ungeachtet aller Hindernisse bis zum Ziel zu bringen?
A.J. Weigoni: Es ist die innere Notwendigkeit, die jeder Künstler in sich spürt. Und es gibt kaum etwas Befriedigenderes, als aus einer puren Idee nur mit dem eigenen Willen und der Unterstützung der KollegInnen, etwas Materielles wie etwa ein Hörspiel zu machen. Poesie kann Menschen insofern verändern, als daß sie bewußt ihre Gefühle verändern. In diesem Sinne ist jedes Kunstwerk, also auch ein Gedicht, das bewußt versucht, die Wahrnehmung zu verändern, ein politischer Akt.
Man muß sich die Zusammenarbeit von A.J. Weigoni und Tom Täger als ähnlich glückliches Produktionspaar vorstellen wie sonst nur noch Lennon/McCartney oder Marx/Engels. Ihrer Studioarbeit liegen umfangreiche poetische Performances zugrunde, die u.a. mit dem Life-Mitschnitt »Amaryll« dokumentiert sind. Bei dieser Aufnahme ist die wunderbare Akustik der romanische Kapelle "Drüggelte“ zu hören, die auf einem Plateau zwischen Haarstrang und Möhnetal, nahe der Möhnetalsperre, steht. Als zwölfeckiger Zentralbau wurde die Kapelle vermutlich in der Mitte des 12. Jahrhunderts erbaut. Der Klang der Kapelle gab der Rezitation einen Nachhall, den Weigoni durch ironische Brechungen vor dem weihevollen bewahrt. In Weigonis Dichtung wird der Klang Gedanke und der Gedanke Klang. Beim Hörern versteht man, weshalb das jähe Nebeneinander von Konkretum und Abstraktum zu seinen Kunstgriffen zählt. Er spürt der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach. Er gehört zu den Poeten, die nicht nur Text, sondern Klang produzieren; seine Stimmführung ist nahezu Musik. Unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Weigoni verfügt über eine schattierungsfähige Stimme, die viele Zwischentöne kennt. Auf eine sensible Art spröde. Sanft und energisch. Warm und weich. Rauh und klar. Seine Stimme ist wirkmächtig, virtuos modulierend und fordernd, die Skepsis allem Pathos gegenüber, selbst dort, wo es sich anbietet, läßt aufhorchen. Weigoni hat einen hohen Anspruch, und kann doch den hohen Ton nicht leiden. Ein formales Problem ist die Folge, daß er durch schroffe Abgrenzung und pathetische Bekenntnisse in den Griff zu bekommen versucht. Bei Weigoni sind Selbstironie und aufrichtiger Affekt eben kein Widerspruch, philisophischer Ernst findet sich mit abgründigem Witz verpaart, und Raffinesse und pophistorische Reflektiertheit paaren sich mit der Komplexität eines Gedichts.
Die Sehnsucht nach Deutung und Umdeutung der Begriffe bleibt bei dem 'VerDichter' Weigoni groß. Er trägt seine Gedichte nicht einfach vor, er gestaltet und verwirklicht sie. Roland Barthes hat geschrieben, daß es keine menschliche Stimme auf der Welt gebe, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder eben des Abscheus. Es gibt keine Stimme, zu der wir uns neutral verhalten können: Entweder wir lieben sie oder nicht, entweder wir ertragen sie oder wir reagieren idiosynkratisch. Was fasziniert, ist etwas sehr Konkretes: Wörter, Wortgruppen, bestimmte Zusammenstellungen, in bestimmter Perspektive ausgewählte Sprachkombinationen. Weigoni interessiert der Einklang der Vokale, Konsonanten und mehrwortigen Verbindungen, das durch vokabuläre Zusammenfügung hergestellte künstliche Bild. Weigoni wetzt die Konsonanten, bis sie schärfer schneiden als jedes Rasiermesser, vermag poetische Performances zu Ereignissen zu machen, weil er den richtigen Rhythmus und die Melodie findet. Weigoni hat wie kaum ein Lyriker sonst begriffen, daß das Gedicht Mundwerk im buchstäblichen Sinn ist: Es entsteht im Rachenraum. Da zischt und schnattert, da hämmert's und gurgelt es. Manchmal versteht man nicht den Sinn, aber die Gedichte sind durch den Sprachgestus und –duktus immer evident. So musikalisch diese Poesie ist, so falsch wäre es, sie als Musik oder reine Lautmalerei zu verstehen. Der Rezitator arbeitet in seinen poetischen Performances mit Wörtern, und seine Worte haben Bedeutung. Selbst und gerade da, wo er ihnen die herkömmliche unter den Füssen wegzieht, zitiert er sie durch das Sprachspiel, in dem er sie verwendet. Er läßt die Glossolalie der Metropolen–Slangs und die Patois–Eloquenz anklingen, unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Dieser Lyriker legt gleichsam jedes Wort, jede Silbe, jeden Ton unter das Mikroskop, prüft jede Nuance der Artikulation, der Vokalfärbung, der Konsonantenakzentuierung, der Klangschattierung und der dynamischen Abstufung – Rezitieren ist hier Millimeterarbeit. Dieses Mosaik aus sprachlichen und klanglichen Details wächst zu einem farbigen und zugleich präzisen Gesamtbild zusammen, dies liegt zum einen an seiner stimmlichen Reaktionsschnelligkeit und Wendigkeit, zum anderen an der klugen Planung seiner interpretatorischen Disposition. Ein wirklicher Lyriker weiß, daß er der Sprache das Meiste verdankt. Wenn er ihr folgt, folgt sie ihm. Das merkt man auch, wenn man A.J. Weigoni zuhört bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Seine Sprache trägt und treibt, und man wird mitgetragen und mitgetrieben. Jede Einzelheit steht nicht für sich, sondern verweist aufs Ganze, steht in einem Zusammenhang und wird in den Dienst einer umfassenden Ausdrucksintention gestellt. Weigoni artikuliert so, als ob er durch jedes Wort auf den Grund der Bedeutung sieht. Das Mondäne vereinigt sich mit dem Musikalischen, der Intellekt mit dem Sinnlichen. Seine Stimme erzeugt eine atemberaubende Intimität. Sie ist weich und schwingend wie der Körper einer Katze, und sie kann kalt leuchten wie Mondschein. Aber vor allem ist sie groß, wenn er leise spricht. Dann bricht sie manchmal und zeigt raue Stellen; sie entzieht sich in Momenten der Heiserkeit, um dann um so schöner wiederzukommen. Nicht nur als Sammler von Sprachblüten ist er eine Gelehrtennatur von idealistischem Fleiß und positivistischem Systemdrang, man muß vor seinem polemischen Talent auf der Hut sein. Weigoni wollte nicht einfach ein weiterer experimenteller Lyriker sein und im Bastelparadies arbeiten, er wollte eine eigene Sprache und hat aus der Analyse der Tradition heraus die Poesie der körperlichen Erfahrung, der Klangrealistik, bei welcher die Energetik des Hervorbringens eines Klangs ebenso freigelegt und existenziell wird wie die Worte und ihr Inneres selber: Senkblei in die Seele. Im „Adagio“ dieser Sprachinstallation kontrastieren phasenweise die Harmonien der Musik und der eher Dissonanzen thematisierende Text. Das zugleich analytische und spielerische der Textfolge korrespondiert mit der Tatsache, daß Musik und Mathematik verwandte Ursprünge haben. Poesie ist höhere Zahlenlehre, die durch die Addition aller Gleichungen das Ohr zum Klingen bringt.
Jens Pacholsky: Gehen Sie neben der Lyrik noch einem anderem Beruf nach, oder andersrum: Können Sie von der Lyrik überhaupt leben?
A.J. Weigoni: Arthur Rimbaud war Waffenhändler, Fernando Pessoa war Handelskorrespondent, Gottfried Benn war Arzt (wer würde bei ihm nicht gern einmal in die Sprechstunde gehen?). Solange man als Schriftsteller seine Integrität bewahrt, ist alles in Ordnung. Wenn ich, um meine Integrität als Schriftsteller bewahren zu können, nebenher arbeiten muß, ist immer noch alles in Ordnung. Als vielseitig gescheiterte Persönlichkeit habe das Glück, mit geistig und körperlich behinderten Menschen arbeiten zu dürfen.
A.J. Weigoni ist ein Poet, der seinen melancholischen Optimismus stets in einer traumhaften Leichtigkeit genießt. Er ist einer der letzten Romantiker, der um die Unmöglichkeit seines Ideals weiß und immer dann, wenn er sich dessen bewußt wird, die Leere der Welt entdeckt. Sein Anliegen ist die Verteidigung des Individuellen und Schwachen gegen die Herrschaft der Apparate, den Übermut der Ämter, gegen die Macht der Mächtigen. Weigoni vertraut auf die Macht des Textes und der Literatur, auf die Kraft von Intelligenz und Bildung. Er ist überzeugt, daß der Text den Weg zur Welt weisen wird, er schieben die Sprache dabei wie eine Wand zwischen sich und die Welt, was ihn von ihren Pop–Textern unterscheidet, die die Sprache nutzten, um die Welt zu umarmen, wenn nicht zu erobern. Als Seismograf der Gesellschaft will Weigoni mit der Poesie Spielräume eröffnen, Zwänge abbauen, Normen in Frage stellen, Hierarchien auflösen. Seine Poetik der Fremdheit arbeiten mit einer Vergegenwärtigung, die kein Erbarmen kennt, diese Poesie vollstreckt eine so unerbittliche wie befreiende Logik der Form. Der dichterische Duktus entzieht sich allen klassischen Vorbildern. Grammatische und syntaktische Konventionen werden gebrochen; kurze, stakkatohafte Zeilen stehen nicht selten neben prosaisch ausholenden Versen. Wer Weigonis Lachen aushält, wird auch seine Nähe nicht missen wollen.
Auf der CD 1 des Hörbuchs »Gedichte« ist die »Letternmusik im Gaumentheater« zu hören. Hier verläßt sich Weigoni auf den ältesten Spezialeffekt, den die Menschheit besitzt: Die Stimme!
Die Verve seines Vortrags, die expressive Kraft seiner Sprache, sein ungenialisches Outfit, das alles paßt nicht in die deutsche Lyriklandschaft, deren Vertreter gemeinhin als moderate Erben Benns, Celans oder Bachmanns gehandelt werden. Weigoni vermeidet Fehler, die bundesrepublikanische Schriftsteller machen und die ihre Arbeiten oft schal beschatten. Er verbarrikadiert sich weder wie Arno Schmidt als Solipsist in der Heide, noch stilisiert er sich zum großen Einzelnen, der sich im Kampf gegen den Stumpfsinn der Vielen in seiner Kunst aufreibt, wie es Rolf Dieter Brinkmann zum Ende tat.
Für A.J. Weigoni ist das Buch eine Partitur, die es in Konzerten der Sprache aufzuführen gilt. Mit hoher Konzentration komponiert er eine Elegie über die entzweiende Kraft des Eros. Seine Sprache hat Eleganz und Musikalität, und seine „Letternmusik“ ist voller Weisheit und Humanität. Wer sich die Mühe macht, die Gedichte laut zu lesen – was für diese Gattung eigentlich generell zu empfehlen ist – merkt schnell, mit welch unglaublicher Präzision und Raffinesse sie rhythmisiert sind. Das Spielen mit Wörtern und das Verschieben der Semantik mit anderen Worten generiet eine Worterotomanie, Linguistik als tanzbares Mantra. Eine Musik aus Buchstaben komprimiert: Polyphonie aus Silben und Wörtern, absolute Musik wie beim späten Monteverdi als Äquivalent für das, was mit Sprache den eigenen Beschädigungen und denen der Welt um diesen kleinen Ich–Mittelpunkt herum entgegengestellt werden kann. Die Rettung hinein ins kulturelle Gedächtnis, auch wenn der Anteil auch noch so gering ist. Für einen Moment nur, über die Konventionen unserer Vorstellungen von Lebenszeit hinaus gedacht, sich an einem bestimmten Punkt in die große Gleichzeitigkeit der Künste eintragen zu können, ist das unbescheidene Sehnsuchtsziel für A.J. Weigoni. Rhythmisch, lautmalerisch und konsonantenreich macht er Sprache als Material sichtbar. Ihm gilt seine unablässige Aufmerksamkeit: die Sprache, die vor ihm denkt und aus ihrem magischen Ursprung ihre Kraftlinien und Rhythmen mitbringt, ohne die kein dichterischer Text möglich wird. In der Bereitschaft des Lyrikers, sein Schreiben ihrer Eigenbewegung, ihrem Atem zu überantworten, ist Sprache nicht mehr nur Mitteilung oder Aussage; sie wird Evokation, wird eine Dimension von allem Geschehenden selbst, eine Dimension der Bilder, die aus der Erinnerung aufleuchten. Seine Gedichte sind präzis gearbeitete Vexierbilder, die ihre unterschiedlichen Seiten schon beim ersten Anblick erspüren lassen, um dann, bei genauerer Betrachtung, eine Tiefenschärfe bis in ihre filigrane Technik hinein zu entfalten. Diese Gedichte sind ein Sprach-Spiel mit der Aufforderung zum Mitspielen.
Auf der Bühne verkörpert A.J. Weigoni eine absolute künstlerische Hingabe und eine unaufgeregte Unbedingtheit. »Letternmusik im Gaumentheater« ist ein Platz für den artistischen Bau autarker Sprachkonstrukte außerhalb der alltäglichen Rede und normierter Sprachregularien. Weigonis Leidenschaft ist das kunstvolle und traditionsbewußte Zerlegen und Neukomponieren von Sprache. Bis in die atomaren Bestandteile der Sprache, bis in die Morpheme und Phoneme hineingehen der Zerlegungs– wie auch der Gestaltungswille in diesen Gedichten. Nie geht es in seinen Gedichten darum, Sprachzertrümmerungen um jeden Preis zu organisieren oder gar serielle Permutationen vorzuführen. Wenn er spezifische Techniken lyrischer Raffung, Komprimierung und schroffer Fügung durchprobiert, geschieht dies, um die sinnliche Materialität des Textkörpers erfahrbar zu machen. Seine Sprache ist eine Sprache, die sich immer wieder selbst überprüft. Das vielfach verschlungene Sprechen stellt hohe Anforderungen an die Zuhörenden, manche verschachtelte Sentenz, mancher der unzähligen Literaturverweise bleibt unerschlossen. Überheblichkeit aber kommt schon deshalb nicht auf, weil über allem ein feiner Schleier der Selbstironie liegt. Die „Letternmusik“ ist erotische Literatur in einem sehr spezifischen Sinn, nämlich einem über die Sprache alle anderen Sinne kumulativ ansprechenden. Das Wort selbst verwandelt sich in einen lebendigen Gegenstand – ebenso die Zeit. Diese Gedichte dienen als Bühne für die Darstellung von Wut, Trauer, Begierde und Leidenschaft, Haß, Freude, Glück, Hoffnung und Höllenqual, obwohl vom Ich selten die Rede ist. Alles Empfinden steckt in den Dingen und ihren Bewegungen. Melodiöse Rhythmen unterwandert dieser VerDichter mit Rissen und Peitschenhieben. Weigoni bleibt einer Genauigkeit verpflichtet, in deren Namen er den Worten ihre Tiefenschichten abhorcht und den Zuständen der Welt ihre dialektische Wahrheit. Dieses Freigelassene, Strömende entsteht durch Präzision, Klarheit und Konzentration. Die Gedichte dieses Hörbuchs oszillieren zwischen dem lyrischen Protestgedicht und dem politischen Liebesgedicht. Das Gefühl, in einer Epoche der Zerstörung der Welt zu leben, ist in vielen Gedichten Weigonis zu spüren. Was zuweilen erschrickt ist die Kühle, mit der seine Lyrik den Untergang als eine Selbstverständlichkeit zitieren. Sprache wird Trägerin vielschichtiger Bedeutungen, Sprache als Klang, die Stimme als Mittlerin und körperliches Instrument. Diese Gedichte sollen daran erinnern, was Poesie ursprünglich war: Gesang, Melodie und Rhythmus, Reim und Versmaß, Litanei und Mythos.
Jens Pacholsky: Einen Nebenstrang Ihrer lyrischen Arbeit bilden die lyrischen Monodramen »Señora Nada«, »Oden an die Zukunftsseelen« und »Unbehaust«. Man kann diese Stücke lesen oder hören. Warum muß man sie sehen?
A.J. Weigoni: Um Poesie zu machen, die sich dezidiert über jede Norm hinwegsetzt, muß man einen mentalen Raum zu schaffen, der sich im Schwebezustand zwischen Tod und Leben, zwischen Traum und Wachen befindet. Die eigentliche Aufführung findet nicht auf der Bühne statt, sondern im Kopf jedes Zuschauers. Sie wird auch nicht instant konsumiert, sondern lebt weiter in Bildern, in Klängen, in Erinnerungsfetzen. Wir müssen Schluß machen mit dieser Idee, daß der Schriftsteller ein Fabrikant von Spektakeln ist, die einem Saal von Voyeuren auf dem Silbertablett der Bühne als ein fertiges, bewundernswürdiges Objekt zum Konsum vorgesetzt werden.
Es gehört zu den Auffälligkeiten der Monodramen von Weigoni, daß er die Sprachräume, die er ausschreitet, bevor er sie manchmal in schwindelerregende Höhen treibt, zunächst auslotet. Da werden akribisch Bodenproben genommen, werden Bedeutungsablagerungen untersucht, wird genau analysiert, was da als Bodensatz vorhanden ist. Seine Fähigkeit besteht darin, allein aus Haltungen und Gesten zu erkennen, was einem Menschen widerfahren ist. Er baut seinen Stoff aus Beobachtungen. Als Flaneur lockt Weigoni den Hörer in Fallen und Verstecke quer durch die Weltliteratur, durch die er sich, bildungssatt und erkenntnishungrig, als Cicerone bewegt, um auf immer wieder überraschende Weise Arglist und Täuschung zum Arsenal der Kunst auszurufen. In hochkonzentrierter Form macht das Monodram »Señora Nada« etwas, was nur die Literatur kann, aber auch sie nur sehr selten: Es macht Dinge vorstellbar, die man sich nicht vorstellen kann, weil es nicht auszuhalten wäre, wenn man es täte. Doch wenn sie wie hier verwandelt erscheinen, verdichtet, in jedem Wortsinn, zu Literatur, werden sie, wenn schon nicht erträglich, so doch erlebbar in einer Mischung aus Grauen und ästhetischem Genuß. Dieses Monodram handelt von der Konstitution einer Gegenwirklichkeit der psychischen Prozesse. Was scheinbar geschieht, ist nur die Oberfläche eines ganz anderen Abenteuers. Dem Titel liegt die Auffassung zugrunde, daß sich jeder Mensch in seinem Bewußtsein eine Welt nach seinem Maß erschafft – ein Vorgang, den das Werk gleichsam in der Schrift wiederholt. Die erzählerischen Strukturen des Monodrams geraten ins Wackeln, die semantischen und morphologischen Valeurs der Wörter rücken ins Zentrum. Die entfesselte Sprachalchemie triumphiert über den Traditionalismus. Die Redensarten haben versagt, so bleibt nur der Weg in die innere Demontage und Sprengung aller konditionierten Sprechhaltungen: heraus aus den Festlegungen, hinein in die Polysemie, das turbulente Spiel der Mehrdeutigkeiten. Seine Poesie ist kein Prozeß, in dem man eine Erkenntnis verschlüsselt oder treffender formuliert, sondern eine Sphäre menschlichen Tuns, die so autonom ist wie die Musik, die bildende Kunst, der Tanz. Will man beschreiben, warum diese lyrischen Monodramen eine so betörende Wirkung entfalten, könnte man sagen: Da ist ein Klang von Stille.
Mit den ersten Zeilen wird dieser Ton angeschlagen, wie in der Eröffnung einer Cellosonate, drängender Abstieg in gefaßte Melancholie. Vorsichtig, zurückhaltend setzen sie ein, die Langgedichte, aber sie alle variieren ein einziges überwältigendes Thema – was der Mensch ist in seiner Ungeschütztheit, wie er sich darin bewähren kann, vor allem vor sich selbst. Bei »Señora Nada« provoziert Weigoni mit einem stream–of–consciousness durch Inhalte, und nicht durch Dolby–Surround. Darin wird er von Tom Täger begleitet mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition ist durchsetzt mit minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt.
Schwarz ist die Farbe der Stille, Weiß jene des Rauschens auf diesen menschenleeren Bildern, die Meer und Riff, Bucht und Hafen ins wechselnde Licht rücken. Die grammatische Implosion im letzten Wort, das Herausbrechen unbetonter Vokale, versinnlicht sprachlich das Motiv des Schiffbruchs. Über den spärlichen Werken der Zivilisation liegt die Aura schrecklicher Schönheit, Spuren verlieren sich am Strand. Den Kampf um die Dauer hat der Mensch hier immer schon verloren. Die Schönheit von Weigonis Sprache liegt in der lakonischen Präzision des Wortes, der Genauigkeit jeder Beobachtung: in der Poesie des bewußt erlebten Augenblicks. So als habe die Todesnähe, in der die Protagonistin sich befindet, auch das Bewußtsein des Lyrikers beim Schreiben aufs Äußerste geschärft. Wo das Schreiben die Notwehr der Seele gegen den Ansturm des Nichts darstellt, wird alles möglich. Weigoni ist ein Vertreter stilistischer Polyphonie, er schert sich nicht um die klassische Schriftsprache und Forderungen der sprachlichen Reinheit, sondern mischt gehobene mit niederen Ausdrucksweisen und wartet mit einer Fülle von Soziolekten, dialektalen Eigenarten und syntaktischen Fügungen aus der gesprochenen Sprache auf. Er verwendet wissenschaftliche Begriffe wie Ausdrücke der Alltagssprache, nimmt tradierte Metaphern auf und prägt neue. Wiederholungen, motivische Wiederaufnahmen und Inversionen, rhetorische Fragen, aphoristische und apodiktische Formulierungen setzt er stilistisch wirkungsvoll ein und spickt seine Poesie mit Zitaten anderer und Anspielungen auf eigene Werke. Das kaleidoskopische Zitieren verschafft seinen Schriften eine intertextuelle Ebene, die sich als eine Form kultureller Erinnerungsarbeit deuten läßt. In diesen Satzgirlanden, die zuweilen von schelmischem Gelächter durchdrungen sind, geht es um unterschiedliche Anteile von Tradition und Traditionsbruch. Seine Sprache bringt das Geheimnis der Dinge zum Leuchten. »Señora Nada« präsentiert ein schwankendes Daseinsgefühl. Hier geht es um die Krankheiten der Epoche, um Entfremdung, Auraverlust der Kunst und die metaphysischen Konsequenzen, die für den transzendental Obdachlosen aus der Entzauberung der Welt entstanden sind. Dieses Monodram zeigt sich lyrisch hermetisch und auf engstem Raum labyrinthisch, die dahinsurrenden Zeilen sind raffiniert und lapidar zugleich, Stimmungsbilder aus dem Innersten einer äußerst ungesicherten Existenz. Wie im Mondlicht die Dinge eine quecksilbrig harte und zugleich diffus changierende Kontur annehmen, von der einen in die andere Gestalt wechseln, somit der Einbildungskraft doppelt ausgeliefert scheinen, erweist sich »Señora Nada« als somnambul und luzide zugleich. Eine nächtlich phosphoreszierende Welt, Wachtraum und Traumerwachen, die sich nur in ganz wenigen Augenblicken versöhnlich entspannt. Dieses Monodram bietet Momentaufnahmen einer beängstigend sinnlichen Metaphysik des Schwebens, einer gegenständlichen Bodenlosigkeit gleitender, entgleitender Bezugspunkte, einer sich verschränkenden inneren und äußeren Welt. Es ist beides enthalten und gleichfalls bestimmend: Form und Formsprengung, bezogen auf die allgemeine Geschichte der Gattung Langgedicht, und besonders auf die individuelle.
Jens Pacholsky: Wie entscheidend ist der polithistorische Kontext für Ihr Schreiben?
A.J. Weigoni: Da bin ich eingeschränkt auf meine Lebenszeit, aus der allein heraus ich schreiben kann. Vergessen gehört im Literatur-Betrieb dazu. In einer Art von praktizierter Katharsis, sollte man sich an dem freuen, was ist, und auf das, was kommt. Ich versuche direkt am Schauplatz des Geschehens zu sein, um mir ein eigenes Bild zu machen. Zuweilen kann dieser Ort allerdings auch ein Archiv sein.
Weigoni ist begabt mit einer Witterung, einer überwachen Sensibilität für sonst nie wahrgenommene Dinge. Unzählige Biographen haben versucht, dem Mythos Sisi auf die Spur zu kommen, dabei ist die Lösung einfacher als die Lösung einer Gleichung ersten Grades: In ihren Gedichten spricht sie sich ganz unverblümt aus. Elisabeths Gedichte aus den 1880–ger Jahren sind eine einzige große Hymne an den schwärmerisch verehrten „Meister“ Heinrich Heine. Diese Verehrung ging über die übliche Liebe eines Literaturfreundes weit hinaus. Sie kannte lange Passagen von Heine auswendig und beschäftigte sich auch intensiv mit dem Leben des Dichters. Mit dem 1856 in Paris gestorbenen Heinrich Heine glaubte sie sich eng verbunden, fühlte sich als seine Jüngerin und glaubte, der Meister diktiere ihr die Verse in die Feder. Ein Klassiker, ist jener Künstler, dessen Werk in exemplarischer Weise die Entwicklungen und Tendenzen seiner Zeit spiegelt, sie authentisch zusammenfasst und ihnen damit eine Art Mehr–Wert verleiht – eine Gültigkeit, die weit über die Aktualität des Tages und jegliche wechselnde Mode hinausreicht. Das lyrische Ich erinnert sich nur noch an Bildausschnitte, aber nicht mehr an das Kontinuum, in das sie gehörten. Die Zeit hat das Vergessen an diesen Bildern arbeiten lassen. Sie hat dafür gesorgt, daß nur noch Teile vorhanden sind, in denen Geschichte erstarrt ist. Doch um sie rekonstruieren zu können, muß sich das Gedächtnis zu den Rändern vorarbeiten. Ihre Dichtungen aus den achtziger Jahren bestimmte sie (anders als ihre Jugendgedichte) zur Veröffentlichung. Als Drucktermin stellte sie sich das Jahr 1950 vor, also eine Zeit, wo niemand ihrer Zeitgenossen mehr lebendig wäre; wenigstens in der Nachwelt wollte Elisabeth erreichen, was die Zeitgenossen ihr verweigerten: Rechtfertigung, Verständnis, Nachruhm. Elisabeth, Kaiserin von Österreich, Königin von Ungarn und Böhmen, genannt Sisi, trat am 6. September 1998 in Schloß Morsbroich (in dem vom WDR produzierten Live-Hörspiel „Oden an die Zukunftsseelen“) flüchtig in das Leben, was sie eigentlich hätte leben wollen. 100 Jahre vorher war sie auf dem Weg von Genf nach Montreux, um auf der Bühne des Heinrich-Heine-Klubs ihre Gedichte vorzutragen. Auf dem Weg zur Fähre wurde sie von dem Anarchisten Luigi Lucheni vom Leben zum Tode befördert. Sisi (in Weigonis Monodram gespielt von Elisabeth (sic!) Trissenaar, die der Elisabeth den Charakter einer pfiffig wägenden Intellektuellen verlieh), das ist keine Frau, das ist ein Mythos. Dieser Mythos bedeutet an der Oberfläche: Schönheit und Einsamkeit. In einem Hör-Spiel wurde sie durch die Worte und Klänge wieder lebendig.
Jens Pacholsky: Wird in dem Monodram »Unbehaust« durch das Zitieren vieler aktueller gesellschaftlicher Themen in diesem persönlichen Monodram auf kleinster Ebene das Drama der Welt, der höheren Ebene, gespiegelt?
A.J. Weigoni: »Unbehaust« ist ein Stück über die (mögliche) Freiheit des Einzelnen innerhalb der Unfreiheit der Bedingungen. Jeder träumt den autonom-autistischen Traum vom Leben als Held. Jo Chang, die Heldin, mißtraut diesem Traum. Sie führt ihn vor, destabilisiert, zerreißt ihn. Das Leben bietet andere Realitäten. Und mehr noch – andere Traumata. Erfahrung einatmen, Gedichte ausatmen. Leben und Dichtung sind nicht getrennte Bereiche, sie entwickeln sich miteinander in Verantwortung und Zeugenschaft. Weigonis Langgedichte schrauben sich wie Tunnelbohrer durch zeitgenössische Erfahrungsräume. Ob diese Monodramen etwas bedeuten sollen, ist zweitrangig. Entscheidend ist, daß sie sich ereignen. Diese Lyrik ist ein Sprachgeschehen, das die Leser synchron miterleben können, vorausgesetzt, er ist bereit, den sprunghaften Wechsel zwischen symbolistischen und gegenständlichen Weltbeschreibungen mitzuvollziehen. Jo Chang laboriert mit Methoden zum Einfangen irrationaler Verbindungen mittels der „écriture automatique, sie erkennt die seelischen Verkrüppelungen, Restriktionen und kommunikativen Verarmungen, das Orientierungsdefizit der Mitmenschen, ihre autistischen Tendenzen, Doppelmoral, Neurosen und den Lebensverzicht. Diese Perspektive birgt reizvolle Chancen für kleine Grausamkeiten und unerwartete Wahrheiten.
A.J. Weigoni erkennt die Schwellen und Brüche der sich rapide verändernden Gesellschaft und bearbeitet ihre Ambivalenzen in seinem Werk. Sein Stil ist ein Tanz, ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale. Der Mensch ist ein eigentümliches Wesen, das durch die Sprache von sich getrennt ist. Erst diese Trennung von sich macht es möglich, daß er einen Bezug zu sich selbst hat. Weigonis Schreiben kreist beständig um die Verstrickung in diesen sprachlichen Diskurs. Dieses Lebensthema bildet das Gravitationszentrum seines Denkens. Er will das Leben nicht ersetzen, sondern verdichten, Erfahrungen nicht übertuschen, sondern erforschen. Auch die Form, die ein Künstler seinem Kunstwerk gibt, ist für ihn nur ein Täuschungsmanöver, das Wahrheit und Stabilität lediglich suggeriert. Er beschreibt die Konstruktion von Wirklichkeit als einen offenen Prozeß, den abzuschließen immer schon eine Verfälschung bedeutet, da daß die Behauptung von Eindeutigkeit fordert. An dieser Eindeutigkeit scheitert auch Jo Chang in dem Monodram »Unbehaust«. Eine Empfindung von Vielfachheit, Gewesenheit und Wiederholtheit reist mit, hält sie gefangen. Ihr nomadisches Dasein ist eine linguistische Odyssee. Jo Chang springt hin und her, verknüpft die entlegensten Erscheinungen und fesselt durch ihre Kunst der gekonnten Abschweifung. Jede Form von Dogmatismus ist ihr zuwider, stattdessen propagiert sie eine Art kreativer Zweideutigkeit. Offenbar geht die Selbstbesinnung und das Bewußtsein von einer globalen Ordnung weiter, als je vorher, und damit auch das Verlangen, dem einzelnen Wort jenen ganz bestimmten Sinn zu geben, der über die momentane Saturierung und den bloßen Spieltrieb des Organisierens und Kombinierens hinaus reicht; den Sinn nämlich, Poesie jeweils als Vorstellung jener umfaßendsten globalen Struktur zu verstehen, in die alles einbezogen ist. Das hat nichts mit weltfernem Mystizismus und Dogmatismus zu tun, sondern ist ein Zeichen dafür, daß einen in ganz besonderem Masse das Staunen überkommen kann, wenn man heute die einfachsten Überlegungen und Untersuchungen über ein einziges Wort anstellt und Zusammenhänge entdeckt, die zwangsläufig zu neuen Ordnungsvorstellungen führt, zu einer neuen Anschauung der Materie und damit des Handwerks überhaupt. Als unentwegter Passagier der Gegenwart kann sie nicht endlos in der Warteschleife des aufgeschobenen Sinns verweilen.
A.J. Weigoni tariert den Widerspruch aus, zwischen epischem Anspruch und lyrischer Subjektivität, zwischen dem Ehrgeiz, die Virtuosen einzuholen, und der Sehnsucht nach einer ganz anderen, nicht verdinglichten, weltversöhnenden Poesie. Mitunter gebiert das Leben höchstselbst die Kunst. Wenn es anders nicht zu ertragen ist. Als menschlicher Überlebensausweg aus den Bedrängnissen der Welt. Sie findet aber oft auch dann noch zu einer meisterhaften Form, wenn sie sich aus sich selbst gebiert, ihr Lebenslicht nur weiterreicht. Weigonis Monodram scheint unter der Wortoberfläche eine latente Musikalität mitgegeben zu sein. Jo Chang bewegt sich in den Gärten des Lauschens. Doch anders als bei »Señora Nada«, deren Sprache gleichsam silberhell klingt, arbeitet Täger mit dem Geräusch des Papiers, das er aus der Konnotation des Nebensächlichen, ja des Störenden zu befreien sucht. Tom Täger hat ein waches Ohr für die Naturtöne in der großen Stille. Seine Klangcollage zeugt von großer Disziplin, kommt schlackenlos daher, hart und kristallin manchmal, aber immer wieder auch mit Glanz und innerer Wärme. Diese Komposition ist eine kunstvolle Etüde über die Frage: „Wie weit kann man Musik elementar machen, ohne ins Leere zu fallen?“ Ein Versuch, ganz nahe an der Leere, am Unpersönlichen vorbeizugehen. Höflich dringt Weigoni mit einer Strategie des Erlöschens in die geistige Wärmestube des Bürgertums ein und räumt sie aus. Das Sprechen hat hier seine Selbstverständlichkeit verloren, es hat wenig mit Zwerchfell, Stimmband oder Resonanzraum zu tun. Jo Chang hat ihre Rede nicht. So geht viel, fast alles, verloren. Ihre Verweigerung ist konfrontativ, sie spielt auf mit enttäuschter Erwartung und liefert sich der fremden Sphäre komplexer Geistigkeit aus. Ein delirantes Bewußtseinsprotokoll wird zum Soziogramm einer gefesselten Gesellschaft. Das Dunkle im doppelten Wortsinn, als Unergründlichkeit und Düsternis, ist für Weigoni eine zentrale poetische Qualität, und nicht nur aus persönlicher Vorliebe, sondern aus ontologischem Grund. Beides gehört für ihn unablösbar zum Menschen selbst. Weigoni versucht, die chaotische Vielfalt der Wirklichkeit streng zu literarisieren und dabei eine eigene poetische Wirklichkeit herzustellen. Es ist ein richtiggehender Wahrnehmungsfetischismus, der seine Monodramen auszeichnet, verbunden mit einem unbedingten Willen zur künstlerischen Form, aber wie immer bei Weigoni darf man so etwas nie an der Oberfläche suchen, sondern tief in der Syntax. Das Genre Hörspiel ist für ihn nie primär eine Mitteilungsform. Dies gehört für diesen Schriftsteller, neben dem ästhetischen Anspruch, zum Wesenskern seines Schaffens: Seine lyrischen Monodramen sind Hörspiele gegen den kulturellen Gedächtnisverlust. Erst dieser Verlust, als existenzielle, erkenntnistheoretische oder ästhetische Erfahrung, macht Präsenzen spürbar. Seine Monodramen, die man auch naiv lesen kann, stehen wie Rätsel in der Landschaft. Jo Chang umweht in »Unbehaust« eine existenzielle Fremdheit. Dieses Monodram ist ein Irrgarten des konjunktivischen Prinzips. Noch herrscht das Allbekannte, bald könnte alles anders sein. Das Grundvertrauen in die Sagbarkeit der Dinge und in die Möglichkeit poetischer Wahrheit haben ihr das Überleben ermöglicht und sie auf den Königsweg ihrer Selbsterrettung durch Poesie geführt. Für Jo Chang markieren die Erfahrungen von Expatriierung und Sprachverlust die elementaren Schicksalsdaten ihrer Existenz, sie reklamiert das lyrische Wort als das Eigenste, das selbst im Stadium tiefer Verzweiflung als lebendiges Wort angerufen werden kann. Eine unterschwellige Distanz läßt sich dieser Figur gegenüber nur dann ausräumen, wenn man dieses Langgedicht nicht als bloße Intelligenzleistung versteht. Weigoni ist nicht anmaßend genug, Antworten auf alles zu geben. Er hat sein eigenes Maß einer Gegensätzlichkeit im Sittlichen, und das bietet er mit diesem Monodram an: Ein Denkspiel und das Ausrufen unserer Fragilität in einem. Die Sprache beginnt dabei zu oszillieren, einerseits wird sie ganz besonders innerlich, gesprochen von einem leidenden, traurigen, erschöpften Menschen, andererseits wirkt sie unvorhersehbar, wiederholbar, fremdbestimmt. Dazwischen steckt das, worum es Weigoni geht: die Entleerung des Gefühls in der Welt, das Ersterben des Menschen im Glamour, die Leere, von der wir uns nähren. In ihrer Fokussierung auf das Hören, mithin das Zuhören, spricht Jo Chang eine Art der sinnlichen Wahrnehmung wie der geistigen Verarbeitung an, die mehr und mehr ins Abseits zu geraten droht – insofern ist durch diese Kunst auch eine gesellschaftspolitische Aussage getan. »Unbehaust« ist ein Monodram, das nachwirkt.
Jens Pacholsky: Ist „Literatur die zeitlose Kunst“, oder ist diese Ansicht nur ein Konstrukt der moralisierenden bürgerlichen Feuilletonisten und weltfremden Akademiker?
A.J. Weigoni: Für mich ist Dichtung Lebenszweck, ein Ausdruck persönlicher und geistiger Freiheit als beständige Rebellion. Poesie ist weder das Schöne noch das Gute, doch freilich sollte sie das Wahre sein: die hörbare Passion im Widerstreit der Gefühle, eine Organisation von lyrischen Stimmen mit allen denkbaren Ausdrucksmitteln.
CD 2 des Hörbuchs »Gedichte« ist allein einem Kompositum in vier Akten vorbehalten: »Dichterloh«. Was auf Anhieb verführt und besticht, ist seine Spreche: ihre Melodie, ihr Rhythmus, ihr weiter Atem. Die Stimmhaftigkeit des Schreibens und der Wunsch, es sprechend zu machen, bilden in A.J. Weigonis Werk ein zentrales Phantasma. Als "Sprechsteller" bricht er die Sprache auf, dehnt sie ins Geräuschhafte und treibt sie durch seine assoziative Fantasie ins Expressive. Weigoni nutzt die Sprache als akustisches Präzisionsinstrument. Bei ihm lösen sich die Wörter ein Stückweit von ihrer mimetisch–realistischen Abbildfunktion und tragen auf unterschiedliche Weise dazu bei, das Vertraute fremd zu machen. Zu seinen Reizmitteln gehören zwischen Schrift und Rede wechselnde Tonspuren, eine intensiv atmende Syntax und Metrik, Klangbrüche und kunstvolle Enjambements, die der Akzentuierung eines einzelnen Worts, einer Silbe oder eines Buchstabens dienen. Dann entwickeln die Verse eine Spannkraft und eine vertikale Drift, die Zeilen treten hinter der Wirkung des Gedichtganzen zurück, und mit Zeilenbrüchen wird der Gedichtkörper kunstvoll gestaut. Seine Stimme kann das Fließen und die Beweglichkeit des Körpers wiedergeben. Sie kann Energien beschwören, für die es keine Worte gibt, emotionale Schattenreiche. Der Körper lügt nicht, die Stimme auch nicht. Man kann die emotionale Unehrlichkeit hören, wenn jemand die Stimme manipuliert, nur um einen Effekt zu erzielen. Weigoni manipuliert niemanden. Ein Reiz seiner Arbeit besteht in der Unverkrampftheit eines Erforschung, der die Einfachheit des Urzeitlichen besitzt; ihn zu verstehen, braucht es Offenheit und ein wenig Neugier. Dieser Lyriker lebt in osmotischer Beziehung zur Sprache, die er als etwas Lebendiges und Tödliches auffaßt. Sein Kompositum kann, anders als ein Bild, nicht als Ganzes wahrgenommen werden, sondern nur nach und nach.
A.J. Weigoni versucht in seinem Schreiben, die Fülle der Möglichkeiten im Hier und Jetzt zu erschließen. Er bricht den vertrauten Gebrauch der Worte auf und richtet die Hierarchien neu aus. In diesen Gedichten läßt Weigoni das klassische Reimschema hinter sich und öffnet die Kategorien des Erkennens für den Mythos und die Eigentümlichkeiten der Sprache, die für ihn niemals ein bloßes Vehikel des Gedanken ist. Er zeigt, daß die Erkenntnis ausdrucksgebunden ist, und begründet, wie der Sinn immer an das sinnliche Zeichen geknüpft sein muß – und umgekehrt, wie das Zeichen, das Symbol, eine sinnhafte Prägung ist. So entwickelt er eine Zeichentheorie, in der das Erkennen nicht mehr rein abstrakten Mustern folgt, sondern von kulturellen Formen abhängig ist. Syntax und Interpunktion zerlegen die schwindenden Zeilen in Sinn– und Atemeinheiten ohne Haltepunkte. Dadurch entsteht eine Vertikalspannung der Verse. Das Sprachmaterial, mit dem er Umgang pflegt, dringt selbstverständlich durch die Membran, wobei die Transformationsprozesse, denen er es gleichzeitig unterzieht, besonders intensiv sind. Das feine Ohr des Dichters entdeckt in der Lautgestalt der Wörter weiterreichende Beziehungen, die in raffinierten Zeilenumbrüchen offengelegt werden. Seine Lyrik lebt vom Paradox der raumschaffenden Verdichtung, nicht als Formspiel, sondern als formsprengende Lust an der Sprache. Es geht ihm in der Poesie primär um eine Haltung, die Haltung des Dichters und die der Wörter.
Der Modebegriff Identität ist nirgends so gründlich hinterfragt worden wie in diesen Gedichten. Seit Arno Schmidt hat niemand das Konstrukt des Ichs derart mitleidslos beobachtet. Der Traum von der Unmittelbarkeit der Lyrik ist seit langem ausgeträumt. Das lyrische Ich kann sich am besten dadurch qualifizieren, daß es seine Beziehung zu einem Ich aus Fleisch und Blut abbricht. Dies ist eine radikale Absage an den Glauben des 18. Jahrhunderts, Gedichte seien Ausdruck des Gefühls, sie enthielten Nachrichten des Verfassers in Versform. Die Gedichte Weigonis widerlegen diese Anforderung, sie sind nicht dem Ich, sondern der Welt zugewandt. Dieser VerDichter präferiert die Idee des Zeitenspringers, die Gleichzeitigkeit verschiedener Ebenen. Die Sprache ist nicht nur ein Privileg, sie ist auch eine Grenze des Menschen. Die prinzipielle Offenheit des sprachlich artikulierbaren Sinns hat erfahrbar nicht nur den Charakter der Überfülle, der Weite und Transzendenz, sie macht sich auch als Mangel bemerkbar, als Entgleiten des Sinns oder als Ausbleiben eines sinnvollen Abschlusses. So entstehen Gedichte als transistorische Momente, blitzartige images und Augenblicksbilder der Erfahrung. Wer sich in die Gänge von Weigonis poetischem Labyrinth wagt, ohne Schweiß kein Preis, dem winkt intellektuelles Vergnügen sondergleichen. Die unbändige Freiheit aufmüpfiger Fantasie, das prinzipiell Respektlose seiner Haltung, daß virtuos Verspielte dieser Artistenprosa – all das ist ein Protest gegen die herrschenden Verhältnisse: Sprachkritik offenbart sich als Machtkritik. Wie ein Arzt einen Brustkorb, so klopft Weigoni die Worte auf ihren Ideologiecharakter ab, lenkt den Blick in die existenziellen Tiefen der condition humaine. Er arbeitet, wie es John Cage nannte, an der Entmilitarisierung der Sprache, ist dabei ein Chronist der Zerstörung und in diesem Prozeß gleichzeitig ein Bewahrer des Zerstörten in der Schrift. Die Sprache muß dann die Wahrheit ausspucken, ob sie will oder nicht.
Das berühmte Diktum von Walter Benjamin: Wer meine, ein Gedicht verstanden zu haben, der habe es gerade nicht verstanden, möchte ich in Bezug auf Weigoni variieren: Wer meint, er habe ihm auf die Schulter klopfen können, der hat die Schulter nicht verstanden. Gibt es im Gedicht den absichtslosen Blick, der ganz auf der Oberfläche und der Materialität der Phänomene ruht? Gibt es Gedichte, in denen das Ich fast gar nicht mehr vorhanden ist und der Wahrnehmende nur noch Sensorium?
Die so genannten Neuen Medien sind ein genuiner Resonanzboden. Auch Weigoni weiß um die negative Qualifikation, die eintritt, wenn einer fähig ist, in Unerklärlichkeiten zu sein, in Zweifeln, ohne das ärgerliche Ausstrecken nach Faktum und Vernunft. Er geht das subtile Bündnis von Wort und Ton ein und erweist sich als 'VerDichter', der die Sprache im Körper verankert und sich vehement dagegen verwahrt, daß man seine lyrischen Konzentrate im Verstehensprozess wieder verdünnen muß. Hier ist Texterschließung im höchsten Sinne des Wortes gefordert. Diese Lyrik ist Sprache, die sich nichts vorschreiben läßt. In seiner permanenten Bewegung des Ausweichens zeigt Weigoni Haltung gegen die Vereinnahmung des Poeten als intellektuellem Kommentator des eigenen oder eines fremden Werks, gar des Zeitgeschehens. Er sieht den Schriftsteller mitten im Geschehen, wo es keinen privilegierten Beobachterstandort, sondern nur situative Auskunft gibt. Mainstream im herkömmlichen Sinn war Weigoni nie, aber in seiner abgelegenen Furche ist er gefragt und immer wieder gehört worden. Ein Künstler lebt für die Kunst. Wo er es nicht tut, läßt er nach in seiner Kunst. Das scheint mit der Kulturrezeption insgesamt zu tun haben, daß Individualisten nicht mehr interessant sind. Die meisten Autoren sind Angestellte des Literatur–Betriebs, sie interpretieren lediglich Literatur, statt Poesie zu schaffen. Weigoni ist einer von den Lyrikern, die dem Literaturbetrieb fern bleibt; nicht aus Abneigung, sondern weil er sich selbst genügt. Er zählt zu jenen Glücklichen, die in ihrem Inneren so viel Stoff vorfinden, daß ihm jegliche Sehnsucht nach Aktion, Handlung und Abenteuer ihnen absurd erscheint. Weigoni ist ein Außenseiter im Gefälligkeitszirkus der deutschsprachigen Literatur, er fühlt sich wohl in dieser Rolle, er schafft sich seine Freiräume, und er nutzt sie aus*.
Als Denkfallensteller im Namen der Poesie bringt er seine desillusionierende Poesie mit allegorischer Schärfe zum Ausdruck. Seine Gedichte sind ein Speicher an Erlebtem und Gelesenem. Weigoni bringt das Verstreute in Zusammenhänge. Und dieses Wissen ist in jeder Zeile anwesend. Seine Poeme sind ein Strom von klaren, auch vertrauten Wörtern, assoziativ verbunden, sie werden zu geschichteten Bildern. Diese "Gedichte" haben als Experimentierfeld des Geistes eine analytische Genauigkeit, die man sonst eher in Essays findet; diese Poesie ist ein Akt des Denkens. Seine Verse sind Denkbilder, die sich dem vorschnellen Zugriff entziehen. Es ist diese leichthändige Souveränität, die Freude am Gedankenspiel, die dem Hörer Vergnügen bereitet; ein gelungener Beweis dafür, daß Denken Spaß machen kann. Philosophie und Poesie treten in eine fruchtbare Konstellation, wenn die eine nicht versucht auszusprechen, was die andere ohnehin sagt. Weigonis Gedichte sind Sprache gewordene Wahrnehmung, die völlig ohne das berühmte lyrische Ich auskommen; der Wahrnehmende hat sich gleichsam aufgelöst in seine Wahrnehmungen. Diese Poeme sind nicht alles, was der Fall ist und wir erkennen können, vielleicht sind sie reicher als das, was wir erahnen können. Diese Poesie steht auf grundsätzliche Weise offen; jede Bestimmtheit, die ihr abgewonnen wird, bringt eine neue Unbestimmtheit mit sich. Für diesen Lyriker fallen mithin die Grenzen der Sprache mit den Grenzen der Welt nicht zusammen. Steinböcke gehen barfuß den Berg hinauf – so sollten Schriftsteller sein.
Jens Pacholsky: Könnten Sie sich ein Leben ohne Schreiben vorstellen?
A.J. Weigoni: Schon. Aber nicht ohne Musik. Musik ist eine der unmittelbarsten Begegnungen mit der Empfindungswelt. Wenn ich Musik von Mozart oder Monteverdi höre, bin ich mit einer Schwingung konfrontiert, die mit meiner nichts zu tun. Aber es erschüttert mich immer wieder, was die alten Meister in meiner Seele bewegen. Musik und Poesie sind die höchsten aller Künste.
Im digitalen Zeitalter geht der Schrift der Sinn und damit die Sinnlichkeit immer mehr verloren; so scheint es. Die Doppel–CD »Gedichte« umfaßt eine Spieldauer von 140 Minuten, das mag in den Ohren derer, die "einfach nur genießen" wollen, abschreckend klingen. Aber wer so denkt, bringt sich um den Genuß, den Genuß der Erkenntnis. Weigonis Verse kann man beim Lesen gegen das Licht halten, damit das Wasserzeichen der Poesie zum Vorschein kommt. Ungeschütztheit ist eine Kategorie, die er für seine Lyrik hochhält. Diese Ungeschütztheit bewirkt auch, daß er als Hüter seiner selbst sie vor dem Anders– und Mißverständnis kaum bewahren kann. A.J. Weigoni erweist sich als Cicerone aus dem Labyrinth des universalen Verblendungszusammenhangs, weil er in der Lyrik der Theorie einen Ort eröffnet; er setzt unablässig das Wissen neu zusammen, bewegt sich in der Intermedialität von Musik und Dichtung, und sucht mit atmosphärischem Verständnis die Poesie im ältesten "Literaturclip", den die Menschheit kennt: Dem Gedicht!
Matthias Hagedorn & Jens Pacholsky (www.goon-magazine.de)
Jens Pacholsky: Wann haben Sie zum ersten Mal bemerkt, daß Sie der Sprache verfallen sind?
A.J. Weigoni: Als ‚I-Dötzchen’ mußte ich in der Schule den ersten Satz meines Lebens schreiben: „Heiner ist weg.“ Mir war es völlig rätselhaft, wer dieser Heiner war und wohin er verschwunden ist. Möglicherweise liegt darin der Sinn von Poesie, zu beschwören, was abhanden gekommen ist oder wir erforschen wollen. Schreiben ist, so besehen, eine Art von Wiederaneignung der Welt. Poesie entdeckt Wirklichkeiten außerhalb der Wirklichkeit, sie wird damit zu einem ein Echo der Realität, daß unsere Seele erklingen läßt.
Schriftsteller versuchen oft, aus den ersten Lebensjahren eine Hölle zu machen und eine Kindheit zu konstruieren, die zu ihrem Selbstbild paßt. Auch Rilkes Kindheit war längst nicht so schlimm, wie der Mythos behauptet, den er später schuf. Und doch ist es die Kindheit, die Weigonis lebenslanges Aufbegehren gegen die Autoritäten eingepflanzt hat, die Zeit, aus der sich sein Schreiben speist, wie aus einer lebenslangen Trotzphase. Die Zeit ist zu kurz, um viel an Biographischem aufzuarbeiten. Außerdem besteht das Leben eines Schriftstellers aus dem, was er schreibt. Als er sich dem Schreiben widmete, ahnte Weigoni nicht, welche Zähigkeit er würde aufbringen müssen, um den Glauben an sich nicht zu verlieren. Jahrelang kamen seine Manuskripte regelmäßig zurück, er aber schrieb unverdrossen weiter, schrieb Gedichte, Hörspiele und Prosatexte. Seine Arbeiten gelten als ‚schwierig’, als anspielungsreich und subtil, nicht eben Eigenschaften, die im verflachenden Literaturbetrieb angesagt sind. Er ist immer die langen Wege gegangen, seine kritische Stoßrichtung braucht einen etwas entfernteren Standpunkt, um ihre Wirkung voll zu entfalten. Weigoni hat seinen Beruf in jahrzehntelanger Anstrengung erlernt, was ihm gelungen ist und was mißglückt, das weiß er besser als beamtete Besserwisser. Dieses System kann ohne seine Reservate ästhetischer Zähigkeit, Widerständigkeit und Wachheit nicht überleben. Seine geistige Heimat ist dort, wo das denkerische Wort poetisch durchtränkt ist und das poetische Wort durchdacht ist. Wenn den Figuren-Texten der Antike noch mystische Motive unterstellt werden können, ist für die meisten Texte des Barock wahrscheinlich der menschliche Spieltrieb verantwortlich, selbst die so genannten ‚konkreten’ und ‚visuellen’ Poesien erschließen sich so am ehesten. Seitdem ist eine Generation vergangen, doch wer könnte behaupten, die Mehrzahl der Vertreter deutscher Hochsprache seien weniger ehrenwert, bürgerlich-bieder, angepaßt und grundsolide? Nach den abseitigen Ausnahmegestalten muß man lange suchen, sie werden entweder vom Markt aufgesogen oder verschwinden lautlos in den Ritzen der Ewigkeit, die das Vergessen meint. A.J. Weigoni gehört zu den meistunterschätzten Lyrikern, sein Schaffen erzeugt eine Poesie, die von der Rezeption das Äußerste an Selbstpreisgabe verlangt. Oft wird im Literaturbetrieb übersehen, daß gerade aus solcher Herausforderung die Subjektivität des– oder derjenigen, der oder die sich auf diese Kunstwerke eingelassen hat, sich auf Dauer verändert – die Wahrnehmungsfähigkeit, die Weltsicht, das Zulassen von Gefühlen. Weigoni sieht sein Schaffen immer in gesellschaftlichen Zusammenhängen, denkt nach über die kulturellen Aufladungen beziehungsweise Vorwegbestimmungen des lyrischen Materials – Tonalität, Körperlichkeit, Struktur und Aura.
„Wenn es Videoclips gibt, muß auch die Literatur auf die veränderten medialen Verhältnisse reagieren“, proklamierte Weigoni Anfang der 1990er Jahre. Was er damit neu definierte, war der Punkt der Inspiration, der notwendig war, wenn man Literatur machen will. Vor dem Geschriebenen kommt bei allen Menschen das Gesprochene, das mündlich Erzählte. So besitzt jeder, der die alte Kulturtechnik des Lesens erlernt hat, Vorerfahrungen, die das spätere, in der Regel stille Lesen dann gewissermaßen grundieren. Hieran können Hörbücher bereichernd anknüpfen. Als er versuchte mit seiner ersten CD (beim Punklabel Constrictor) einen Markt für Hörbücher zu erschließen, hat man ihn für verrückt erklärt. Als Tom Täger die erste LP mit Helge Schneider (Seine größten Erfolge) produzierte, hat man ihn für verrückt erklärt. Wahrend der Buchmarkt stagniert, generiert das Marktsegment "Hörbuch" im Literaturbetrieb seit Jahren zweistellige Wachstumsraten. Als Medienautor ist Weigoni ein Denkspieler, den die technischen Entwicklungen der Medien faszinieren, weil sie schier unendliche Möglichkeiten der Neuordnung von Formen und Zeichen eröffnen. Auf die Anforderungen der Neuen Medien reagiert er als experimentierender Analytiker und analytischer Experimentierer. Das Spielen ist ihm der Königsweg zum Verständnis der Neuen Medien. Computer, Studios und Software sind keine Werk–, sondern Spielzeuge, wobei die traditionellen Medien als Navigationshilfen dienen.
Jens Pacholsky: Was motiviert Sie immer wieder, die Projekte in die Welt zu setzen und ungeachtet aller Hindernisse bis zum Ziel zu bringen?
A.J. Weigoni: Es ist die innere Notwendigkeit, die jeder Künstler in sich spürt. Und es gibt kaum etwas Befriedigenderes, als aus einer puren Idee nur mit dem eigenen Willen und der Unterstützung der KollegInnen, etwas Materielles wie etwa ein Hörspiel zu machen. Poesie kann Menschen insofern verändern, als daß sie bewußt ihre Gefühle verändern. In diesem Sinne ist jedes Kunstwerk, also auch ein Gedicht, das bewußt versucht, die Wahrnehmung zu verändern, ein politischer Akt.
Man muß sich die Zusammenarbeit von A.J. Weigoni und Tom Täger als ähnlich glückliches Produktionspaar vorstellen wie sonst nur noch Lennon/McCartney oder Marx/Engels. Ihrer Studioarbeit liegen umfangreiche poetische Performances zugrunde, die u.a. mit dem Life-Mitschnitt »Amaryll« dokumentiert sind. Bei dieser Aufnahme ist die wunderbare Akustik der romanische Kapelle "Drüggelte“ zu hören, die auf einem Plateau zwischen Haarstrang und Möhnetal, nahe der Möhnetalsperre, steht. Als zwölfeckiger Zentralbau wurde die Kapelle vermutlich in der Mitte des 12. Jahrhunderts erbaut. Der Klang der Kapelle gab der Rezitation einen Nachhall, den Weigoni durch ironische Brechungen vor dem weihevollen bewahrt. In Weigonis Dichtung wird der Klang Gedanke und der Gedanke Klang. Beim Hörern versteht man, weshalb das jähe Nebeneinander von Konkretum und Abstraktum zu seinen Kunstgriffen zählt. Er spürt der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach. Er gehört zu den Poeten, die nicht nur Text, sondern Klang produzieren; seine Stimmführung ist nahezu Musik. Unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Weigoni verfügt über eine schattierungsfähige Stimme, die viele Zwischentöne kennt. Auf eine sensible Art spröde. Sanft und energisch. Warm und weich. Rauh und klar. Seine Stimme ist wirkmächtig, virtuos modulierend und fordernd, die Skepsis allem Pathos gegenüber, selbst dort, wo es sich anbietet, läßt aufhorchen. Weigoni hat einen hohen Anspruch, und kann doch den hohen Ton nicht leiden. Ein formales Problem ist die Folge, daß er durch schroffe Abgrenzung und pathetische Bekenntnisse in den Griff zu bekommen versucht. Bei Weigoni sind Selbstironie und aufrichtiger Affekt eben kein Widerspruch, philisophischer Ernst findet sich mit abgründigem Witz verpaart, und Raffinesse und pophistorische Reflektiertheit paaren sich mit der Komplexität eines Gedichts.
Die Sehnsucht nach Deutung und Umdeutung der Begriffe bleibt bei dem 'VerDichter' Weigoni groß. Er trägt seine Gedichte nicht einfach vor, er gestaltet und verwirklicht sie. Roland Barthes hat geschrieben, daß es keine menschliche Stimme auf der Welt gebe, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder eben des Abscheus. Es gibt keine Stimme, zu der wir uns neutral verhalten können: Entweder wir lieben sie oder nicht, entweder wir ertragen sie oder wir reagieren idiosynkratisch. Was fasziniert, ist etwas sehr Konkretes: Wörter, Wortgruppen, bestimmte Zusammenstellungen, in bestimmter Perspektive ausgewählte Sprachkombinationen. Weigoni interessiert der Einklang der Vokale, Konsonanten und mehrwortigen Verbindungen, das durch vokabuläre Zusammenfügung hergestellte künstliche Bild. Weigoni wetzt die Konsonanten, bis sie schärfer schneiden als jedes Rasiermesser, vermag poetische Performances zu Ereignissen zu machen, weil er den richtigen Rhythmus und die Melodie findet. Weigoni hat wie kaum ein Lyriker sonst begriffen, daß das Gedicht Mundwerk im buchstäblichen Sinn ist: Es entsteht im Rachenraum. Da zischt und schnattert, da hämmert's und gurgelt es. Manchmal versteht man nicht den Sinn, aber die Gedichte sind durch den Sprachgestus und –duktus immer evident. So musikalisch diese Poesie ist, so falsch wäre es, sie als Musik oder reine Lautmalerei zu verstehen. Der Rezitator arbeitet in seinen poetischen Performances mit Wörtern, und seine Worte haben Bedeutung. Selbst und gerade da, wo er ihnen die herkömmliche unter den Füssen wegzieht, zitiert er sie durch das Sprachspiel, in dem er sie verwendet. Er läßt die Glossolalie der Metropolen–Slangs und die Patois–Eloquenz anklingen, unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Dieser Lyriker legt gleichsam jedes Wort, jede Silbe, jeden Ton unter das Mikroskop, prüft jede Nuance der Artikulation, der Vokalfärbung, der Konsonantenakzentuierung, der Klangschattierung und der dynamischen Abstufung – Rezitieren ist hier Millimeterarbeit. Dieses Mosaik aus sprachlichen und klanglichen Details wächst zu einem farbigen und zugleich präzisen Gesamtbild zusammen, dies liegt zum einen an seiner stimmlichen Reaktionsschnelligkeit und Wendigkeit, zum anderen an der klugen Planung seiner interpretatorischen Disposition. Ein wirklicher Lyriker weiß, daß er der Sprache das Meiste verdankt. Wenn er ihr folgt, folgt sie ihm. Das merkt man auch, wenn man A.J. Weigoni zuhört bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Seine Sprache trägt und treibt, und man wird mitgetragen und mitgetrieben. Jede Einzelheit steht nicht für sich, sondern verweist aufs Ganze, steht in einem Zusammenhang und wird in den Dienst einer umfassenden Ausdrucksintention gestellt. Weigoni artikuliert so, als ob er durch jedes Wort auf den Grund der Bedeutung sieht. Das Mondäne vereinigt sich mit dem Musikalischen, der Intellekt mit dem Sinnlichen. Seine Stimme erzeugt eine atemberaubende Intimität. Sie ist weich und schwingend wie der Körper einer Katze, und sie kann kalt leuchten wie Mondschein. Aber vor allem ist sie groß, wenn er leise spricht. Dann bricht sie manchmal und zeigt raue Stellen; sie entzieht sich in Momenten der Heiserkeit, um dann um so schöner wiederzukommen. Nicht nur als Sammler von Sprachblüten ist er eine Gelehrtennatur von idealistischem Fleiß und positivistischem Systemdrang, man muß vor seinem polemischen Talent auf der Hut sein. Weigoni wollte nicht einfach ein weiterer experimenteller Lyriker sein und im Bastelparadies arbeiten, er wollte eine eigene Sprache und hat aus der Analyse der Tradition heraus die Poesie der körperlichen Erfahrung, der Klangrealistik, bei welcher die Energetik des Hervorbringens eines Klangs ebenso freigelegt und existenziell wird wie die Worte und ihr Inneres selber: Senkblei in die Seele. Im „Adagio“ dieser Sprachinstallation kontrastieren phasenweise die Harmonien der Musik und der eher Dissonanzen thematisierende Text. Das zugleich analytische und spielerische der Textfolge korrespondiert mit der Tatsache, daß Musik und Mathematik verwandte Ursprünge haben. Poesie ist höhere Zahlenlehre, die durch die Addition aller Gleichungen das Ohr zum Klingen bringt.
Jens Pacholsky: Gehen Sie neben der Lyrik noch einem anderem Beruf nach, oder andersrum: Können Sie von der Lyrik überhaupt leben?
A.J. Weigoni: Arthur Rimbaud war Waffenhändler, Fernando Pessoa war Handelskorrespondent, Gottfried Benn war Arzt (wer würde bei ihm nicht gern einmal in die Sprechstunde gehen?). Solange man als Schriftsteller seine Integrität bewahrt, ist alles in Ordnung. Wenn ich, um meine Integrität als Schriftsteller bewahren zu können, nebenher arbeiten muß, ist immer noch alles in Ordnung. Als vielseitig gescheiterte Persönlichkeit habe das Glück, mit geistig und körperlich behinderten Menschen arbeiten zu dürfen.
A.J. Weigoni ist ein Poet, der seinen melancholischen Optimismus stets in einer traumhaften Leichtigkeit genießt. Er ist einer der letzten Romantiker, der um die Unmöglichkeit seines Ideals weiß und immer dann, wenn er sich dessen bewußt wird, die Leere der Welt entdeckt. Sein Anliegen ist die Verteidigung des Individuellen und Schwachen gegen die Herrschaft der Apparate, den Übermut der Ämter, gegen die Macht der Mächtigen. Weigoni vertraut auf die Macht des Textes und der Literatur, auf die Kraft von Intelligenz und Bildung. Er ist überzeugt, daß der Text den Weg zur Welt weisen wird, er schieben die Sprache dabei wie eine Wand zwischen sich und die Welt, was ihn von ihren Pop–Textern unterscheidet, die die Sprache nutzten, um die Welt zu umarmen, wenn nicht zu erobern. Als Seismograf der Gesellschaft will Weigoni mit der Poesie Spielräume eröffnen, Zwänge abbauen, Normen in Frage stellen, Hierarchien auflösen. Seine Poetik der Fremdheit arbeiten mit einer Vergegenwärtigung, die kein Erbarmen kennt, diese Poesie vollstreckt eine so unerbittliche wie befreiende Logik der Form. Der dichterische Duktus entzieht sich allen klassischen Vorbildern. Grammatische und syntaktische Konventionen werden gebrochen; kurze, stakkatohafte Zeilen stehen nicht selten neben prosaisch ausholenden Versen. Wer Weigonis Lachen aushält, wird auch seine Nähe nicht missen wollen.
Auf der CD 1 des Hörbuchs »Gedichte« ist die »Letternmusik im Gaumentheater« zu hören. Hier verläßt sich Weigoni auf den ältesten Spezialeffekt, den die Menschheit besitzt: Die Stimme!
Die Verve seines Vortrags, die expressive Kraft seiner Sprache, sein ungenialisches Outfit, das alles paßt nicht in die deutsche Lyriklandschaft, deren Vertreter gemeinhin als moderate Erben Benns, Celans oder Bachmanns gehandelt werden. Weigoni vermeidet Fehler, die bundesrepublikanische Schriftsteller machen und die ihre Arbeiten oft schal beschatten. Er verbarrikadiert sich weder wie Arno Schmidt als Solipsist in der Heide, noch stilisiert er sich zum großen Einzelnen, der sich im Kampf gegen den Stumpfsinn der Vielen in seiner Kunst aufreibt, wie es Rolf Dieter Brinkmann zum Ende tat.
Für A.J. Weigoni ist das Buch eine Partitur, die es in Konzerten der Sprache aufzuführen gilt. Mit hoher Konzentration komponiert er eine Elegie über die entzweiende Kraft des Eros. Seine Sprache hat Eleganz und Musikalität, und seine „Letternmusik“ ist voller Weisheit und Humanität. Wer sich die Mühe macht, die Gedichte laut zu lesen – was für diese Gattung eigentlich generell zu empfehlen ist – merkt schnell, mit welch unglaublicher Präzision und Raffinesse sie rhythmisiert sind. Das Spielen mit Wörtern und das Verschieben der Semantik mit anderen Worten generiet eine Worterotomanie, Linguistik als tanzbares Mantra. Eine Musik aus Buchstaben komprimiert: Polyphonie aus Silben und Wörtern, absolute Musik wie beim späten Monteverdi als Äquivalent für das, was mit Sprache den eigenen Beschädigungen und denen der Welt um diesen kleinen Ich–Mittelpunkt herum entgegengestellt werden kann. Die Rettung hinein ins kulturelle Gedächtnis, auch wenn der Anteil auch noch so gering ist. Für einen Moment nur, über die Konventionen unserer Vorstellungen von Lebenszeit hinaus gedacht, sich an einem bestimmten Punkt in die große Gleichzeitigkeit der Künste eintragen zu können, ist das unbescheidene Sehnsuchtsziel für A.J. Weigoni. Rhythmisch, lautmalerisch und konsonantenreich macht er Sprache als Material sichtbar. Ihm gilt seine unablässige Aufmerksamkeit: die Sprache, die vor ihm denkt und aus ihrem magischen Ursprung ihre Kraftlinien und Rhythmen mitbringt, ohne die kein dichterischer Text möglich wird. In der Bereitschaft des Lyrikers, sein Schreiben ihrer Eigenbewegung, ihrem Atem zu überantworten, ist Sprache nicht mehr nur Mitteilung oder Aussage; sie wird Evokation, wird eine Dimension von allem Geschehenden selbst, eine Dimension der Bilder, die aus der Erinnerung aufleuchten. Seine Gedichte sind präzis gearbeitete Vexierbilder, die ihre unterschiedlichen Seiten schon beim ersten Anblick erspüren lassen, um dann, bei genauerer Betrachtung, eine Tiefenschärfe bis in ihre filigrane Technik hinein zu entfalten. Diese Gedichte sind ein Sprach-Spiel mit der Aufforderung zum Mitspielen.
Auf der Bühne verkörpert A.J. Weigoni eine absolute künstlerische Hingabe und eine unaufgeregte Unbedingtheit. »Letternmusik im Gaumentheater« ist ein Platz für den artistischen Bau autarker Sprachkonstrukte außerhalb der alltäglichen Rede und normierter Sprachregularien. Weigonis Leidenschaft ist das kunstvolle und traditionsbewußte Zerlegen und Neukomponieren von Sprache. Bis in die atomaren Bestandteile der Sprache, bis in die Morpheme und Phoneme hineingehen der Zerlegungs– wie auch der Gestaltungswille in diesen Gedichten. Nie geht es in seinen Gedichten darum, Sprachzertrümmerungen um jeden Preis zu organisieren oder gar serielle Permutationen vorzuführen. Wenn er spezifische Techniken lyrischer Raffung, Komprimierung und schroffer Fügung durchprobiert, geschieht dies, um die sinnliche Materialität des Textkörpers erfahrbar zu machen. Seine Sprache ist eine Sprache, die sich immer wieder selbst überprüft. Das vielfach verschlungene Sprechen stellt hohe Anforderungen an die Zuhörenden, manche verschachtelte Sentenz, mancher der unzähligen Literaturverweise bleibt unerschlossen. Überheblichkeit aber kommt schon deshalb nicht auf, weil über allem ein feiner Schleier der Selbstironie liegt. Die „Letternmusik“ ist erotische Literatur in einem sehr spezifischen Sinn, nämlich einem über die Sprache alle anderen Sinne kumulativ ansprechenden. Das Wort selbst verwandelt sich in einen lebendigen Gegenstand – ebenso die Zeit. Diese Gedichte dienen als Bühne für die Darstellung von Wut, Trauer, Begierde und Leidenschaft, Haß, Freude, Glück, Hoffnung und Höllenqual, obwohl vom Ich selten die Rede ist. Alles Empfinden steckt in den Dingen und ihren Bewegungen. Melodiöse Rhythmen unterwandert dieser VerDichter mit Rissen und Peitschenhieben. Weigoni bleibt einer Genauigkeit verpflichtet, in deren Namen er den Worten ihre Tiefenschichten abhorcht und den Zuständen der Welt ihre dialektische Wahrheit. Dieses Freigelassene, Strömende entsteht durch Präzision, Klarheit und Konzentration. Die Gedichte dieses Hörbuchs oszillieren zwischen dem lyrischen Protestgedicht und dem politischen Liebesgedicht. Das Gefühl, in einer Epoche der Zerstörung der Welt zu leben, ist in vielen Gedichten Weigonis zu spüren. Was zuweilen erschrickt ist die Kühle, mit der seine Lyrik den Untergang als eine Selbstverständlichkeit zitieren. Sprache wird Trägerin vielschichtiger Bedeutungen, Sprache als Klang, die Stimme als Mittlerin und körperliches Instrument. Diese Gedichte sollen daran erinnern, was Poesie ursprünglich war: Gesang, Melodie und Rhythmus, Reim und Versmaß, Litanei und Mythos.
Jens Pacholsky: Einen Nebenstrang Ihrer lyrischen Arbeit bilden die lyrischen Monodramen »Señora Nada«, »Oden an die Zukunftsseelen« und »Unbehaust«. Man kann diese Stücke lesen oder hören. Warum muß man sie sehen?
A.J. Weigoni: Um Poesie zu machen, die sich dezidiert über jede Norm hinwegsetzt, muß man einen mentalen Raum zu schaffen, der sich im Schwebezustand zwischen Tod und Leben, zwischen Traum und Wachen befindet. Die eigentliche Aufführung findet nicht auf der Bühne statt, sondern im Kopf jedes Zuschauers. Sie wird auch nicht instant konsumiert, sondern lebt weiter in Bildern, in Klängen, in Erinnerungsfetzen. Wir müssen Schluß machen mit dieser Idee, daß der Schriftsteller ein Fabrikant von Spektakeln ist, die einem Saal von Voyeuren auf dem Silbertablett der Bühne als ein fertiges, bewundernswürdiges Objekt zum Konsum vorgesetzt werden.
Es gehört zu den Auffälligkeiten der Monodramen von Weigoni, daß er die Sprachräume, die er ausschreitet, bevor er sie manchmal in schwindelerregende Höhen treibt, zunächst auslotet. Da werden akribisch Bodenproben genommen, werden Bedeutungsablagerungen untersucht, wird genau analysiert, was da als Bodensatz vorhanden ist. Seine Fähigkeit besteht darin, allein aus Haltungen und Gesten zu erkennen, was einem Menschen widerfahren ist. Er baut seinen Stoff aus Beobachtungen. Als Flaneur lockt Weigoni den Hörer in Fallen und Verstecke quer durch die Weltliteratur, durch die er sich, bildungssatt und erkenntnishungrig, als Cicerone bewegt, um auf immer wieder überraschende Weise Arglist und Täuschung zum Arsenal der Kunst auszurufen. In hochkonzentrierter Form macht das Monodram »Señora Nada« etwas, was nur die Literatur kann, aber auch sie nur sehr selten: Es macht Dinge vorstellbar, die man sich nicht vorstellen kann, weil es nicht auszuhalten wäre, wenn man es täte. Doch wenn sie wie hier verwandelt erscheinen, verdichtet, in jedem Wortsinn, zu Literatur, werden sie, wenn schon nicht erträglich, so doch erlebbar in einer Mischung aus Grauen und ästhetischem Genuß. Dieses Monodram handelt von der Konstitution einer Gegenwirklichkeit der psychischen Prozesse. Was scheinbar geschieht, ist nur die Oberfläche eines ganz anderen Abenteuers. Dem Titel liegt die Auffassung zugrunde, daß sich jeder Mensch in seinem Bewußtsein eine Welt nach seinem Maß erschafft – ein Vorgang, den das Werk gleichsam in der Schrift wiederholt. Die erzählerischen Strukturen des Monodrams geraten ins Wackeln, die semantischen und morphologischen Valeurs der Wörter rücken ins Zentrum. Die entfesselte Sprachalchemie triumphiert über den Traditionalismus. Die Redensarten haben versagt, so bleibt nur der Weg in die innere Demontage und Sprengung aller konditionierten Sprechhaltungen: heraus aus den Festlegungen, hinein in die Polysemie, das turbulente Spiel der Mehrdeutigkeiten. Seine Poesie ist kein Prozeß, in dem man eine Erkenntnis verschlüsselt oder treffender formuliert, sondern eine Sphäre menschlichen Tuns, die so autonom ist wie die Musik, die bildende Kunst, der Tanz. Will man beschreiben, warum diese lyrischen Monodramen eine so betörende Wirkung entfalten, könnte man sagen: Da ist ein Klang von Stille.
Mit den ersten Zeilen wird dieser Ton angeschlagen, wie in der Eröffnung einer Cellosonate, drängender Abstieg in gefaßte Melancholie. Vorsichtig, zurückhaltend setzen sie ein, die Langgedichte, aber sie alle variieren ein einziges überwältigendes Thema – was der Mensch ist in seiner Ungeschütztheit, wie er sich darin bewähren kann, vor allem vor sich selbst. Bei »Señora Nada« provoziert Weigoni mit einem stream–of–consciousness durch Inhalte, und nicht durch Dolby–Surround. Darin wird er von Tom Täger begleitet mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition ist durchsetzt mit minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt.
Schwarz ist die Farbe der Stille, Weiß jene des Rauschens auf diesen menschenleeren Bildern, die Meer und Riff, Bucht und Hafen ins wechselnde Licht rücken. Die grammatische Implosion im letzten Wort, das Herausbrechen unbetonter Vokale, versinnlicht sprachlich das Motiv des Schiffbruchs. Über den spärlichen Werken der Zivilisation liegt die Aura schrecklicher Schönheit, Spuren verlieren sich am Strand. Den Kampf um die Dauer hat der Mensch hier immer schon verloren. Die Schönheit von Weigonis Sprache liegt in der lakonischen Präzision des Wortes, der Genauigkeit jeder Beobachtung: in der Poesie des bewußt erlebten Augenblicks. So als habe die Todesnähe, in der die Protagonistin sich befindet, auch das Bewußtsein des Lyrikers beim Schreiben aufs Äußerste geschärft. Wo das Schreiben die Notwehr der Seele gegen den Ansturm des Nichts darstellt, wird alles möglich. Weigoni ist ein Vertreter stilistischer Polyphonie, er schert sich nicht um die klassische Schriftsprache und Forderungen der sprachlichen Reinheit, sondern mischt gehobene mit niederen Ausdrucksweisen und wartet mit einer Fülle von Soziolekten, dialektalen Eigenarten und syntaktischen Fügungen aus der gesprochenen Sprache auf. Er verwendet wissenschaftliche Begriffe wie Ausdrücke der Alltagssprache, nimmt tradierte Metaphern auf und prägt neue. Wiederholungen, motivische Wiederaufnahmen und Inversionen, rhetorische Fragen, aphoristische und apodiktische Formulierungen setzt er stilistisch wirkungsvoll ein und spickt seine Poesie mit Zitaten anderer und Anspielungen auf eigene Werke. Das kaleidoskopische Zitieren verschafft seinen Schriften eine intertextuelle Ebene, die sich als eine Form kultureller Erinnerungsarbeit deuten läßt. In diesen Satzgirlanden, die zuweilen von schelmischem Gelächter durchdrungen sind, geht es um unterschiedliche Anteile von Tradition und Traditionsbruch. Seine Sprache bringt das Geheimnis der Dinge zum Leuchten. »Señora Nada« präsentiert ein schwankendes Daseinsgefühl. Hier geht es um die Krankheiten der Epoche, um Entfremdung, Auraverlust der Kunst und die metaphysischen Konsequenzen, die für den transzendental Obdachlosen aus der Entzauberung der Welt entstanden sind. Dieses Monodram zeigt sich lyrisch hermetisch und auf engstem Raum labyrinthisch, die dahinsurrenden Zeilen sind raffiniert und lapidar zugleich, Stimmungsbilder aus dem Innersten einer äußerst ungesicherten Existenz. Wie im Mondlicht die Dinge eine quecksilbrig harte und zugleich diffus changierende Kontur annehmen, von der einen in die andere Gestalt wechseln, somit der Einbildungskraft doppelt ausgeliefert scheinen, erweist sich »Señora Nada« als somnambul und luzide zugleich. Eine nächtlich phosphoreszierende Welt, Wachtraum und Traumerwachen, die sich nur in ganz wenigen Augenblicken versöhnlich entspannt. Dieses Monodram bietet Momentaufnahmen einer beängstigend sinnlichen Metaphysik des Schwebens, einer gegenständlichen Bodenlosigkeit gleitender, entgleitender Bezugspunkte, einer sich verschränkenden inneren und äußeren Welt. Es ist beides enthalten und gleichfalls bestimmend: Form und Formsprengung, bezogen auf die allgemeine Geschichte der Gattung Langgedicht, und besonders auf die individuelle.
Jens Pacholsky: Wie entscheidend ist der polithistorische Kontext für Ihr Schreiben?
A.J. Weigoni: Da bin ich eingeschränkt auf meine Lebenszeit, aus der allein heraus ich schreiben kann. Vergessen gehört im Literatur-Betrieb dazu. In einer Art von praktizierter Katharsis, sollte man sich an dem freuen, was ist, und auf das, was kommt. Ich versuche direkt am Schauplatz des Geschehens zu sein, um mir ein eigenes Bild zu machen. Zuweilen kann dieser Ort allerdings auch ein Archiv sein.
Weigoni ist begabt mit einer Witterung, einer überwachen Sensibilität für sonst nie wahrgenommene Dinge. Unzählige Biographen haben versucht, dem Mythos Sisi auf die Spur zu kommen, dabei ist die Lösung einfacher als die Lösung einer Gleichung ersten Grades: In ihren Gedichten spricht sie sich ganz unverblümt aus. Elisabeths Gedichte aus den 1880–ger Jahren sind eine einzige große Hymne an den schwärmerisch verehrten „Meister“ Heinrich Heine. Diese Verehrung ging über die übliche Liebe eines Literaturfreundes weit hinaus. Sie kannte lange Passagen von Heine auswendig und beschäftigte sich auch intensiv mit dem Leben des Dichters. Mit dem 1856 in Paris gestorbenen Heinrich Heine glaubte sie sich eng verbunden, fühlte sich als seine Jüngerin und glaubte, der Meister diktiere ihr die Verse in die Feder. Ein Klassiker, ist jener Künstler, dessen Werk in exemplarischer Weise die Entwicklungen und Tendenzen seiner Zeit spiegelt, sie authentisch zusammenfasst und ihnen damit eine Art Mehr–Wert verleiht – eine Gültigkeit, die weit über die Aktualität des Tages und jegliche wechselnde Mode hinausreicht. Das lyrische Ich erinnert sich nur noch an Bildausschnitte, aber nicht mehr an das Kontinuum, in das sie gehörten. Die Zeit hat das Vergessen an diesen Bildern arbeiten lassen. Sie hat dafür gesorgt, daß nur noch Teile vorhanden sind, in denen Geschichte erstarrt ist. Doch um sie rekonstruieren zu können, muß sich das Gedächtnis zu den Rändern vorarbeiten. Ihre Dichtungen aus den achtziger Jahren bestimmte sie (anders als ihre Jugendgedichte) zur Veröffentlichung. Als Drucktermin stellte sie sich das Jahr 1950 vor, also eine Zeit, wo niemand ihrer Zeitgenossen mehr lebendig wäre; wenigstens in der Nachwelt wollte Elisabeth erreichen, was die Zeitgenossen ihr verweigerten: Rechtfertigung, Verständnis, Nachruhm. Elisabeth, Kaiserin von Österreich, Königin von Ungarn und Böhmen, genannt Sisi, trat am 6. September 1998 in Schloß Morsbroich (in dem vom WDR produzierten Live-Hörspiel „Oden an die Zukunftsseelen“) flüchtig in das Leben, was sie eigentlich hätte leben wollen. 100 Jahre vorher war sie auf dem Weg von Genf nach Montreux, um auf der Bühne des Heinrich-Heine-Klubs ihre Gedichte vorzutragen. Auf dem Weg zur Fähre wurde sie von dem Anarchisten Luigi Lucheni vom Leben zum Tode befördert. Sisi (in Weigonis Monodram gespielt von Elisabeth (sic!) Trissenaar, die der Elisabeth den Charakter einer pfiffig wägenden Intellektuellen verlieh), das ist keine Frau, das ist ein Mythos. Dieser Mythos bedeutet an der Oberfläche: Schönheit und Einsamkeit. In einem Hör-Spiel wurde sie durch die Worte und Klänge wieder lebendig.
Jens Pacholsky: Wird in dem Monodram »Unbehaust« durch das Zitieren vieler aktueller gesellschaftlicher Themen in diesem persönlichen Monodram auf kleinster Ebene das Drama der Welt, der höheren Ebene, gespiegelt?
A.J. Weigoni: »Unbehaust« ist ein Stück über die (mögliche) Freiheit des Einzelnen innerhalb der Unfreiheit der Bedingungen. Jeder träumt den autonom-autistischen Traum vom Leben als Held. Jo Chang, die Heldin, mißtraut diesem Traum. Sie führt ihn vor, destabilisiert, zerreißt ihn. Das Leben bietet andere Realitäten. Und mehr noch – andere Traumata. Erfahrung einatmen, Gedichte ausatmen. Leben und Dichtung sind nicht getrennte Bereiche, sie entwickeln sich miteinander in Verantwortung und Zeugenschaft. Weigonis Langgedichte schrauben sich wie Tunnelbohrer durch zeitgenössische Erfahrungsräume. Ob diese Monodramen etwas bedeuten sollen, ist zweitrangig. Entscheidend ist, daß sie sich ereignen. Diese Lyrik ist ein Sprachgeschehen, das die Leser synchron miterleben können, vorausgesetzt, er ist bereit, den sprunghaften Wechsel zwischen symbolistischen und gegenständlichen Weltbeschreibungen mitzuvollziehen. Jo Chang laboriert mit Methoden zum Einfangen irrationaler Verbindungen mittels der „écriture automatique, sie erkennt die seelischen Verkrüppelungen, Restriktionen und kommunikativen Verarmungen, das Orientierungsdefizit der Mitmenschen, ihre autistischen Tendenzen, Doppelmoral, Neurosen und den Lebensverzicht. Diese Perspektive birgt reizvolle Chancen für kleine Grausamkeiten und unerwartete Wahrheiten.
A.J. Weigoni erkennt die Schwellen und Brüche der sich rapide verändernden Gesellschaft und bearbeitet ihre Ambivalenzen in seinem Werk. Sein Stil ist ein Tanz, ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale. Der Mensch ist ein eigentümliches Wesen, das durch die Sprache von sich getrennt ist. Erst diese Trennung von sich macht es möglich, daß er einen Bezug zu sich selbst hat. Weigonis Schreiben kreist beständig um die Verstrickung in diesen sprachlichen Diskurs. Dieses Lebensthema bildet das Gravitationszentrum seines Denkens. Er will das Leben nicht ersetzen, sondern verdichten, Erfahrungen nicht übertuschen, sondern erforschen. Auch die Form, die ein Künstler seinem Kunstwerk gibt, ist für ihn nur ein Täuschungsmanöver, das Wahrheit und Stabilität lediglich suggeriert. Er beschreibt die Konstruktion von Wirklichkeit als einen offenen Prozeß, den abzuschließen immer schon eine Verfälschung bedeutet, da daß die Behauptung von Eindeutigkeit fordert. An dieser Eindeutigkeit scheitert auch Jo Chang in dem Monodram »Unbehaust«. Eine Empfindung von Vielfachheit, Gewesenheit und Wiederholtheit reist mit, hält sie gefangen. Ihr nomadisches Dasein ist eine linguistische Odyssee. Jo Chang springt hin und her, verknüpft die entlegensten Erscheinungen und fesselt durch ihre Kunst der gekonnten Abschweifung. Jede Form von Dogmatismus ist ihr zuwider, stattdessen propagiert sie eine Art kreativer Zweideutigkeit. Offenbar geht die Selbstbesinnung und das Bewußtsein von einer globalen Ordnung weiter, als je vorher, und damit auch das Verlangen, dem einzelnen Wort jenen ganz bestimmten Sinn zu geben, der über die momentane Saturierung und den bloßen Spieltrieb des Organisierens und Kombinierens hinaus reicht; den Sinn nämlich, Poesie jeweils als Vorstellung jener umfaßendsten globalen Struktur zu verstehen, in die alles einbezogen ist. Das hat nichts mit weltfernem Mystizismus und Dogmatismus zu tun, sondern ist ein Zeichen dafür, daß einen in ganz besonderem Masse das Staunen überkommen kann, wenn man heute die einfachsten Überlegungen und Untersuchungen über ein einziges Wort anstellt und Zusammenhänge entdeckt, die zwangsläufig zu neuen Ordnungsvorstellungen führt, zu einer neuen Anschauung der Materie und damit des Handwerks überhaupt. Als unentwegter Passagier der Gegenwart kann sie nicht endlos in der Warteschleife des aufgeschobenen Sinns verweilen.
A.J. Weigoni tariert den Widerspruch aus, zwischen epischem Anspruch und lyrischer Subjektivität, zwischen dem Ehrgeiz, die Virtuosen einzuholen, und der Sehnsucht nach einer ganz anderen, nicht verdinglichten, weltversöhnenden Poesie. Mitunter gebiert das Leben höchstselbst die Kunst. Wenn es anders nicht zu ertragen ist. Als menschlicher Überlebensausweg aus den Bedrängnissen der Welt. Sie findet aber oft auch dann noch zu einer meisterhaften Form, wenn sie sich aus sich selbst gebiert, ihr Lebenslicht nur weiterreicht. Weigonis Monodram scheint unter der Wortoberfläche eine latente Musikalität mitgegeben zu sein. Jo Chang bewegt sich in den Gärten des Lauschens. Doch anders als bei »Señora Nada«, deren Sprache gleichsam silberhell klingt, arbeitet Täger mit dem Geräusch des Papiers, das er aus der Konnotation des Nebensächlichen, ja des Störenden zu befreien sucht. Tom Täger hat ein waches Ohr für die Naturtöne in der großen Stille. Seine Klangcollage zeugt von großer Disziplin, kommt schlackenlos daher, hart und kristallin manchmal, aber immer wieder auch mit Glanz und innerer Wärme. Diese Komposition ist eine kunstvolle Etüde über die Frage: „Wie weit kann man Musik elementar machen, ohne ins Leere zu fallen?“ Ein Versuch, ganz nahe an der Leere, am Unpersönlichen vorbeizugehen. Höflich dringt Weigoni mit einer Strategie des Erlöschens in die geistige Wärmestube des Bürgertums ein und räumt sie aus. Das Sprechen hat hier seine Selbstverständlichkeit verloren, es hat wenig mit Zwerchfell, Stimmband oder Resonanzraum zu tun. Jo Chang hat ihre Rede nicht. So geht viel, fast alles, verloren. Ihre Verweigerung ist konfrontativ, sie spielt auf mit enttäuschter Erwartung und liefert sich der fremden Sphäre komplexer Geistigkeit aus. Ein delirantes Bewußtseinsprotokoll wird zum Soziogramm einer gefesselten Gesellschaft. Das Dunkle im doppelten Wortsinn, als Unergründlichkeit und Düsternis, ist für Weigoni eine zentrale poetische Qualität, und nicht nur aus persönlicher Vorliebe, sondern aus ontologischem Grund. Beides gehört für ihn unablösbar zum Menschen selbst. Weigoni versucht, die chaotische Vielfalt der Wirklichkeit streng zu literarisieren und dabei eine eigene poetische Wirklichkeit herzustellen. Es ist ein richtiggehender Wahrnehmungsfetischismus, der seine Monodramen auszeichnet, verbunden mit einem unbedingten Willen zur künstlerischen Form, aber wie immer bei Weigoni darf man so etwas nie an der Oberfläche suchen, sondern tief in der Syntax. Das Genre Hörspiel ist für ihn nie primär eine Mitteilungsform. Dies gehört für diesen Schriftsteller, neben dem ästhetischen Anspruch, zum Wesenskern seines Schaffens: Seine lyrischen Monodramen sind Hörspiele gegen den kulturellen Gedächtnisverlust. Erst dieser Verlust, als existenzielle, erkenntnistheoretische oder ästhetische Erfahrung, macht Präsenzen spürbar. Seine Monodramen, die man auch naiv lesen kann, stehen wie Rätsel in der Landschaft. Jo Chang umweht in »Unbehaust« eine existenzielle Fremdheit. Dieses Monodram ist ein Irrgarten des konjunktivischen Prinzips. Noch herrscht das Allbekannte, bald könnte alles anders sein. Das Grundvertrauen in die Sagbarkeit der Dinge und in die Möglichkeit poetischer Wahrheit haben ihr das Überleben ermöglicht und sie auf den Königsweg ihrer Selbsterrettung durch Poesie geführt. Für Jo Chang markieren die Erfahrungen von Expatriierung und Sprachverlust die elementaren Schicksalsdaten ihrer Existenz, sie reklamiert das lyrische Wort als das Eigenste, das selbst im Stadium tiefer Verzweiflung als lebendiges Wort angerufen werden kann. Eine unterschwellige Distanz läßt sich dieser Figur gegenüber nur dann ausräumen, wenn man dieses Langgedicht nicht als bloße Intelligenzleistung versteht. Weigoni ist nicht anmaßend genug, Antworten auf alles zu geben. Er hat sein eigenes Maß einer Gegensätzlichkeit im Sittlichen, und das bietet er mit diesem Monodram an: Ein Denkspiel und das Ausrufen unserer Fragilität in einem. Die Sprache beginnt dabei zu oszillieren, einerseits wird sie ganz besonders innerlich, gesprochen von einem leidenden, traurigen, erschöpften Menschen, andererseits wirkt sie unvorhersehbar, wiederholbar, fremdbestimmt. Dazwischen steckt das, worum es Weigoni geht: die Entleerung des Gefühls in der Welt, das Ersterben des Menschen im Glamour, die Leere, von der wir uns nähren. In ihrer Fokussierung auf das Hören, mithin das Zuhören, spricht Jo Chang eine Art der sinnlichen Wahrnehmung wie der geistigen Verarbeitung an, die mehr und mehr ins Abseits zu geraten droht – insofern ist durch diese Kunst auch eine gesellschaftspolitische Aussage getan. »Unbehaust« ist ein Monodram, das nachwirkt.
Jens Pacholsky: Ist „Literatur die zeitlose Kunst“, oder ist diese Ansicht nur ein Konstrukt der moralisierenden bürgerlichen Feuilletonisten und weltfremden Akademiker?
A.J. Weigoni: Für mich ist Dichtung Lebenszweck, ein Ausdruck persönlicher und geistiger Freiheit als beständige Rebellion. Poesie ist weder das Schöne noch das Gute, doch freilich sollte sie das Wahre sein: die hörbare Passion im Widerstreit der Gefühle, eine Organisation von lyrischen Stimmen mit allen denkbaren Ausdrucksmitteln.
CD 2 des Hörbuchs »Gedichte« ist allein einem Kompositum in vier Akten vorbehalten: »Dichterloh«. Was auf Anhieb verführt und besticht, ist seine Spreche: ihre Melodie, ihr Rhythmus, ihr weiter Atem. Die Stimmhaftigkeit des Schreibens und der Wunsch, es sprechend zu machen, bilden in A.J. Weigonis Werk ein zentrales Phantasma. Als "Sprechsteller" bricht er die Sprache auf, dehnt sie ins Geräuschhafte und treibt sie durch seine assoziative Fantasie ins Expressive. Weigoni nutzt die Sprache als akustisches Präzisionsinstrument. Bei ihm lösen sich die Wörter ein Stückweit von ihrer mimetisch–realistischen Abbildfunktion und tragen auf unterschiedliche Weise dazu bei, das Vertraute fremd zu machen. Zu seinen Reizmitteln gehören zwischen Schrift und Rede wechselnde Tonspuren, eine intensiv atmende Syntax und Metrik, Klangbrüche und kunstvolle Enjambements, die der Akzentuierung eines einzelnen Worts, einer Silbe oder eines Buchstabens dienen. Dann entwickeln die Verse eine Spannkraft und eine vertikale Drift, die Zeilen treten hinter der Wirkung des Gedichtganzen zurück, und mit Zeilenbrüchen wird der Gedichtkörper kunstvoll gestaut. Seine Stimme kann das Fließen und die Beweglichkeit des Körpers wiedergeben. Sie kann Energien beschwören, für die es keine Worte gibt, emotionale Schattenreiche. Der Körper lügt nicht, die Stimme auch nicht. Man kann die emotionale Unehrlichkeit hören, wenn jemand die Stimme manipuliert, nur um einen Effekt zu erzielen. Weigoni manipuliert niemanden. Ein Reiz seiner Arbeit besteht in der Unverkrampftheit eines Erforschung, der die Einfachheit des Urzeitlichen besitzt; ihn zu verstehen, braucht es Offenheit und ein wenig Neugier. Dieser Lyriker lebt in osmotischer Beziehung zur Sprache, die er als etwas Lebendiges und Tödliches auffaßt. Sein Kompositum kann, anders als ein Bild, nicht als Ganzes wahrgenommen werden, sondern nur nach und nach.
A.J. Weigoni versucht in seinem Schreiben, die Fülle der Möglichkeiten im Hier und Jetzt zu erschließen. Er bricht den vertrauten Gebrauch der Worte auf und richtet die Hierarchien neu aus. In diesen Gedichten läßt Weigoni das klassische Reimschema hinter sich und öffnet die Kategorien des Erkennens für den Mythos und die Eigentümlichkeiten der Sprache, die für ihn niemals ein bloßes Vehikel des Gedanken ist. Er zeigt, daß die Erkenntnis ausdrucksgebunden ist, und begründet, wie der Sinn immer an das sinnliche Zeichen geknüpft sein muß – und umgekehrt, wie das Zeichen, das Symbol, eine sinnhafte Prägung ist. So entwickelt er eine Zeichentheorie, in der das Erkennen nicht mehr rein abstrakten Mustern folgt, sondern von kulturellen Formen abhängig ist. Syntax und Interpunktion zerlegen die schwindenden Zeilen in Sinn– und Atemeinheiten ohne Haltepunkte. Dadurch entsteht eine Vertikalspannung der Verse. Das Sprachmaterial, mit dem er Umgang pflegt, dringt selbstverständlich durch die Membran, wobei die Transformationsprozesse, denen er es gleichzeitig unterzieht, besonders intensiv sind. Das feine Ohr des Dichters entdeckt in der Lautgestalt der Wörter weiterreichende Beziehungen, die in raffinierten Zeilenumbrüchen offengelegt werden. Seine Lyrik lebt vom Paradox der raumschaffenden Verdichtung, nicht als Formspiel, sondern als formsprengende Lust an der Sprache. Es geht ihm in der Poesie primär um eine Haltung, die Haltung des Dichters und die der Wörter.
Der Modebegriff Identität ist nirgends so gründlich hinterfragt worden wie in diesen Gedichten. Seit Arno Schmidt hat niemand das Konstrukt des Ichs derart mitleidslos beobachtet. Der Traum von der Unmittelbarkeit der Lyrik ist seit langem ausgeträumt. Das lyrische Ich kann sich am besten dadurch qualifizieren, daß es seine Beziehung zu einem Ich aus Fleisch und Blut abbricht. Dies ist eine radikale Absage an den Glauben des 18. Jahrhunderts, Gedichte seien Ausdruck des Gefühls, sie enthielten Nachrichten des Verfassers in Versform. Die Gedichte Weigonis widerlegen diese Anforderung, sie sind nicht dem Ich, sondern der Welt zugewandt. Dieser VerDichter präferiert die Idee des Zeitenspringers, die Gleichzeitigkeit verschiedener Ebenen. Die Sprache ist nicht nur ein Privileg, sie ist auch eine Grenze des Menschen. Die prinzipielle Offenheit des sprachlich artikulierbaren Sinns hat erfahrbar nicht nur den Charakter der Überfülle, der Weite und Transzendenz, sie macht sich auch als Mangel bemerkbar, als Entgleiten des Sinns oder als Ausbleiben eines sinnvollen Abschlusses. So entstehen Gedichte als transistorische Momente, blitzartige images und Augenblicksbilder der Erfahrung. Wer sich in die Gänge von Weigonis poetischem Labyrinth wagt, ohne Schweiß kein Preis, dem winkt intellektuelles Vergnügen sondergleichen. Die unbändige Freiheit aufmüpfiger Fantasie, das prinzipiell Respektlose seiner Haltung, daß virtuos Verspielte dieser Artistenprosa – all das ist ein Protest gegen die herrschenden Verhältnisse: Sprachkritik offenbart sich als Machtkritik. Wie ein Arzt einen Brustkorb, so klopft Weigoni die Worte auf ihren Ideologiecharakter ab, lenkt den Blick in die existenziellen Tiefen der condition humaine. Er arbeitet, wie es John Cage nannte, an der Entmilitarisierung der Sprache, ist dabei ein Chronist der Zerstörung und in diesem Prozeß gleichzeitig ein Bewahrer des Zerstörten in der Schrift. Die Sprache muß dann die Wahrheit ausspucken, ob sie will oder nicht.
Das berühmte Diktum von Walter Benjamin: Wer meine, ein Gedicht verstanden zu haben, der habe es gerade nicht verstanden, möchte ich in Bezug auf Weigoni variieren: Wer meint, er habe ihm auf die Schulter klopfen können, der hat die Schulter nicht verstanden. Gibt es im Gedicht den absichtslosen Blick, der ganz auf der Oberfläche und der Materialität der Phänomene ruht? Gibt es Gedichte, in denen das Ich fast gar nicht mehr vorhanden ist und der Wahrnehmende nur noch Sensorium?
Die so genannten Neuen Medien sind ein genuiner Resonanzboden. Auch Weigoni weiß um die negative Qualifikation, die eintritt, wenn einer fähig ist, in Unerklärlichkeiten zu sein, in Zweifeln, ohne das ärgerliche Ausstrecken nach Faktum und Vernunft. Er geht das subtile Bündnis von Wort und Ton ein und erweist sich als 'VerDichter', der die Sprache im Körper verankert und sich vehement dagegen verwahrt, daß man seine lyrischen Konzentrate im Verstehensprozess wieder verdünnen muß. Hier ist Texterschließung im höchsten Sinne des Wortes gefordert. Diese Lyrik ist Sprache, die sich nichts vorschreiben läßt. In seiner permanenten Bewegung des Ausweichens zeigt Weigoni Haltung gegen die Vereinnahmung des Poeten als intellektuellem Kommentator des eigenen oder eines fremden Werks, gar des Zeitgeschehens. Er sieht den Schriftsteller mitten im Geschehen, wo es keinen privilegierten Beobachterstandort, sondern nur situative Auskunft gibt. Mainstream im herkömmlichen Sinn war Weigoni nie, aber in seiner abgelegenen Furche ist er gefragt und immer wieder gehört worden. Ein Künstler lebt für die Kunst. Wo er es nicht tut, läßt er nach in seiner Kunst. Das scheint mit der Kulturrezeption insgesamt zu tun haben, daß Individualisten nicht mehr interessant sind. Die meisten Autoren sind Angestellte des Literatur–Betriebs, sie interpretieren lediglich Literatur, statt Poesie zu schaffen. Weigoni ist einer von den Lyrikern, die dem Literaturbetrieb fern bleibt; nicht aus Abneigung, sondern weil er sich selbst genügt. Er zählt zu jenen Glücklichen, die in ihrem Inneren so viel Stoff vorfinden, daß ihm jegliche Sehnsucht nach Aktion, Handlung und Abenteuer ihnen absurd erscheint. Weigoni ist ein Außenseiter im Gefälligkeitszirkus der deutschsprachigen Literatur, er fühlt sich wohl in dieser Rolle, er schafft sich seine Freiräume, und er nutzt sie aus*.
Als Denkfallensteller im Namen der Poesie bringt er seine desillusionierende Poesie mit allegorischer Schärfe zum Ausdruck. Seine Gedichte sind ein Speicher an Erlebtem und Gelesenem. Weigoni bringt das Verstreute in Zusammenhänge. Und dieses Wissen ist in jeder Zeile anwesend. Seine Poeme sind ein Strom von klaren, auch vertrauten Wörtern, assoziativ verbunden, sie werden zu geschichteten Bildern. Diese "Gedichte" haben als Experimentierfeld des Geistes eine analytische Genauigkeit, die man sonst eher in Essays findet; diese Poesie ist ein Akt des Denkens. Seine Verse sind Denkbilder, die sich dem vorschnellen Zugriff entziehen. Es ist diese leichthändige Souveränität, die Freude am Gedankenspiel, die dem Hörer Vergnügen bereitet; ein gelungener Beweis dafür, daß Denken Spaß machen kann. Philosophie und Poesie treten in eine fruchtbare Konstellation, wenn die eine nicht versucht auszusprechen, was die andere ohnehin sagt. Weigonis Gedichte sind Sprache gewordene Wahrnehmung, die völlig ohne das berühmte lyrische Ich auskommen; der Wahrnehmende hat sich gleichsam aufgelöst in seine Wahrnehmungen. Diese Poeme sind nicht alles, was der Fall ist und wir erkennen können, vielleicht sind sie reicher als das, was wir erahnen können. Diese Poesie steht auf grundsätzliche Weise offen; jede Bestimmtheit, die ihr abgewonnen wird, bringt eine neue Unbestimmtheit mit sich. Für diesen Lyriker fallen mithin die Grenzen der Sprache mit den Grenzen der Welt nicht zusammen. Steinböcke gehen barfuß den Berg hinauf – so sollten Schriftsteller sein.
Jens Pacholsky: Könnten Sie sich ein Leben ohne Schreiben vorstellen?
A.J. Weigoni: Schon. Aber nicht ohne Musik. Musik ist eine der unmittelbarsten Begegnungen mit der Empfindungswelt. Wenn ich Musik von Mozart oder Monteverdi höre, bin ich mit einer Schwingung konfrontiert, die mit meiner nichts zu tun. Aber es erschüttert mich immer wieder, was die alten Meister in meiner Seele bewegen. Musik und Poesie sind die höchsten aller Künste.
Im digitalen Zeitalter geht der Schrift der Sinn und damit die Sinnlichkeit immer mehr verloren; so scheint es. Die Doppel–CD »Gedichte« umfaßt eine Spieldauer von 140 Minuten, das mag in den Ohren derer, die "einfach nur genießen" wollen, abschreckend klingen. Aber wer so denkt, bringt sich um den Genuß, den Genuß der Erkenntnis. Weigonis Verse kann man beim Lesen gegen das Licht halten, damit das Wasserzeichen der Poesie zum Vorschein kommt. Ungeschütztheit ist eine Kategorie, die er für seine Lyrik hochhält. Diese Ungeschütztheit bewirkt auch, daß er als Hüter seiner selbst sie vor dem Anders– und Mißverständnis kaum bewahren kann. A.J. Weigoni erweist sich als Cicerone aus dem Labyrinth des universalen Verblendungszusammenhangs, weil er in der Lyrik der Theorie einen Ort eröffnet; er setzt unablässig das Wissen neu zusammen, bewegt sich in der Intermedialität von Musik und Dichtung, und sucht mit atmosphärischem Verständnis die Poesie im ältesten "Literaturclip", den die Menschheit kennt: Dem Gedicht!
Matthias Hagedorn & Jens Pacholsky (www.goon-magazine.de)
Kurzkritiken
Linktipp: »Gedichtsammlung« als Literaturgattung haben auch
- Gebete (Gernod Siering)
- Gedichte (Cees Nooteboom)
- Dichterloh (A. J. Weigoni)
- Gedichte (Erich Fried)
- Die schönsten Kindergedichte (Max Kruse)